Irgendwie haben diese vier Minuten und 28 Sekunden niemals aufgehört. Bis heute nicht. Ja, man kann sagen, dass diese vier Minuten und 28 Sekunden zu einer Ewigkeit geworden sind. Und mit ihnen Jayne Torvill, Christopher Dean und der Bolero, dessen stampfender Rhythmus die Protagonisten jener sagenumwobenen Nacht in Sarajevo wohl ihr Leben lang begleiten wird. „Der Bolero“, sagt Christopher Dean viele Jahre später, „ist wie ein Tinnitus“.
Das Märchen von Sarajevo: Torvill/Dean und der Bolero
Es ist der 14. Februar 1984, der letzte Tag des Eistanz-Wettbewerbs im Rahmen der Olympischen Winterspiele in Sarajevo. Am Ende dieses Tages liegen Jayne Torvill und Christopher Dean ausgestreckt nebeneinander auf dem Eis, die letzte tobende Dissonanz von Ravels Meisterwerk ist verklungen, die Zetra-Halle steht kopf.
Jayne Torvill und Christopher Dean kämpfen sich durch das Meer aus Blumen und Stofftieren auf der Eisfläche, da leuchtet auf der Anzeigetafel die historische Benotung auf: Neunmal die 6,0 für den künstlerischen Ausdruck, weitere viermal für die technische Ausführung der Jahrhundert-Kür - das hat es in einer Sportart, in der Erfolg und Misserfolg nur subjektiv messbar sind, bloß dieses eine Mal gegeben. Die beiden Zauberer auf dem Eis sehen es, erzählt Dean, aber: "Wir haben es nicht verstanden. Wir waren im Tunnel."
In diesem Tunnel hören und verstehen die Versicherungsangestellte Jayne Torvill und der Polizist Christopher Dean aus Nottingham an jenem Valentinstag 1984 nur eines: die sich langsam steigernden, lauter, drängender werdenden Klänge von Maurice Ravels Bolero. Mit der ansteigenden Wucht der Musik werden auch ihre Bewegungen auf dem Eis atemloser, intensiver, schneller und immer schneller, bleiben dabei doch anmutig, fließend, in einer fast schon surrealen Harmonie.
Der Bolero, dieses düstere Meisterwerk mit seinem immer gleichen Grundrhythmus, dessen Bässe sich in einem ewigen Wettlauf jagen, donnert durch die Halle, durch die Stadt, das Land, durch die ganze olympische Welt. Auf seinen fast dämonischen Klängen fliegen Torvill/Dean leicht wie zwei Schmetterlinge hinauf in den Olymp, in die Unsterblichkeit. Es gibt keine Pausen, keine Brüche, kein Schnell, kein Langsam, es gibt nur diese eine unaufhaltsam fließende Bewegung, die mit dem Bolero zu einem unendlichen Crescendo verschmilzt.
Mit diesem Tag ist der klassische Parketttanz auf dem Eis Vergangenheit, in der Kür werden fortan Geschichten erzählt. Torvill/Dean haben das schon lange vor ihrem Bolero gemacht, "Mack and Mabel" 1982 oder "Barnum on Ice" 1983 sind auf das Eis gezeichnete Fabeln.
Jayne Torvill (66) und Christopher Dean (65) waren nur zu Beginn ihrer Karriere kurz romantisch verbandelt, Freunde sind sie bis heute geblieben. 2018 holen Aljona Savchenko und Bruno Massot bei Olympia in Pyeongchang Paarlauf-Gold für die Deutsche Eislauf-Union - zur Choreografie ihrer wunderbaren Kür "La Terre vue du ciel" haben Torvill/Dean viele Ideen beigetragen. Gelaufen sind Savchenko/Massot in fliederfarbenen Kostümen. Wie einst an jenem märchenhaften Abend 1984 die Zauberer von Sarajevo.