Warum bekommt eine 15 Jahre Eiskunstläuferin ein Medikament gegen ein Herzproblem, das üblicherweise Männer über 40 befällt?
Eis-Skandal: Experte ordnet ein
Es ist das Rätsel, das im Zentrum des spektakulärsten Doping-Verdachtfalls bei Olympia in Peking steht - der gerade dabei ist, immer weitere Kreise zu ziehen. (News: Alle aktuellen Infos zu Olympia 2022)
Die 15 Jahre Eiskunstläuferin Kamila Waljewa, Gold-Gewinnerin mit der Mannschaft und auf dem Weg, zu einem umjubelten Star der Spiele zu werden, ist im Dezember positiv auf den verbotenen Wirkstoff Trimetazidin getestet worden.
Ein hochbrisanter Fall, wegen Waljewas Minderjährigkeit, und vor allem auch wegen der einschlägigen Erfahrungen mit Russland, deren Athleten wegen des Staatsdoping-Skandals von 2014 auch in Peking immer noch offiziell unter neutraler Flagge in Peking unterwegs sind.
In Waljewas Heimat begann noch vor der offiziellen Bestätigung der Kampf um die Deutungshoheit über den Fall: Staatsnahe Medienvertreter behaupten, von Doping in eigentlichem Sinne könne keine Rede sein, verweisen auf die anscheinend nur geringe Menge, die nachgewiesen wurde. Ein russischer Sportarzt spricht gar von einem „präventiven“ Mittel, das Sportlern „wie Vitamine“ verabreicht werde.
Was ist davon zu halten? SPORT1 hat nachgefragt bei Fritz Sörgel, Professor für Pharmakologie und renommierter Doping-Experte.
Trimetazidin? Wirksamkeit als Dopingmittel wird eher vermutet
„Trimetazidin wird eigentlich gegen Herzkrankheiten verwendet“, erklärt Sörgel, als Dopingmittel werde sie eingesetzt wegen „einer wissenschaftlich eigentlich gar nicht gut belegten Grundlage: Man glaubt, dass eine Substanz, die dafür sorgt, dass das Herz besser mit Sauerstoff versorgt wird und durchblutet wird, das auch für den restlichen Körper tun kann.“
Das von der Welt-Antidopingentur WADA verbotene Trimetazidin spielte schon eine Rolle bei vergangenen Skandalen: Bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang war die russische Bobfahrerin Nadescha Sergejewa damit aufgeflogen, auch der inzwischen tief gefallene chinesische Schwimm-Star Sun Yang war 2014 mit dem Mittel erwischt und für drei Monate gesperrt worden.
Der Wirkmechanismus sei sehr ähnlich wie der bei dem durch den Fall Maria Scharapowa berühmt gewordenen Stoff Meldonium, erklärt Sörgel: „Ob das aber wirklich einen Effekt hat: Medizinisch ist das eigentlich unbewiesen, aber es gibt schon viele, die darauf schwören.“
Mit 15 Jahren kommt bei diesem Medikament nur Doping in Frage
Dass etwas anderes als ein Versuch der Leistungssteigerung hinter der Einnahme von Trimetazidin steckt - sollte es sich im Fall Waljewa bewahrheiten - kann sich Sörgel schwer vorstellen: „Man kann immer versuchen, eine Ausnahmegenehmigung für die Behandlung mit bestimmten Medikamenten zu bekommen - aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in ihrem Alter eine Krankheit hat, die aus medizinischen Gründen mit genau dem Mittel behandelt werden muss, sehe ich bei praktisch null.“
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Eine Angina Pectoris (Brustverengung, nicht zu verwechseln mit Mandelentzündung), zu deren Linderung Trimetazidin eingesetzt wird, sei ein Thema bei über 40-Jährigen, nicht bei Teenagern.
Die angeblich geringe Menge, die bei Waljewa gefunden worden sein soll, sei auch keinesfalls ein Umstand, der ihr Betreuer-Umfeld - bei dem die Verantwortung für die minderjährige Athletin liegt - entlaste: „Es könnte ja gerade das Kalkül gewesen sein, so geringe Mengen zu verwenden, weil man den Gedanken hat, dass es dann vielleicht nicht nachweisbar ist - was womöglich nichts weiter als eine unbegründete Hoffnung ist.“
Eine Grundlage für eine Freispruch Waljewas oder die Erlaubnis, weiter bei Olympia zu starten, kann Sörgel nach aktuellem Kenntnisstand nicht erkennen. Sollte es doch so kommen, wäre er „wirklich gespannt“ auf die Begründung, meint er hierzu.
Es gibt einiges zu klären im rätselhaften Fall Kamila Waljewa.