Einen größeren Gold-Favoriten als Johannes Vetter hatte es im deutschen Olympiateam nicht gegeben. Der 28-Jährige war seit über einem Jahr in den Speerwurf-Wettkämpfen unbesiegt und lieferte regelmäßig Weiten über 90 Meter ab.
Vetter: “Man fühlt sich betrogen”
In Tokio wollte Vetter seine Karriere krönen - doch es kam ganz anders. Schon die Qualifikation, die der Athlet der LG Offenburg erst im letzten Versuch schaffte, hinterließ einige Fragezeichen.
Das Finale bestätigte den Eindruck: Vetter kam nicht mit der Anlage zurecht und musste bereits nach dem Vorkampf die Segel streichen. An seiner Stelle siegte sensationell der nun mit Millionen-Geschenken überhäufte Inder Neeraj Chopra.
Bei SPORT1 erklärt der gebürtige Dresdner die Umstände, die zu seinem Sensations-Aus führten, warum er sich keine Vorwürfe macht und wie es jetzt für ihn weitergeht
SPORT1: Herr Vetter, haben Sie die Nacht schlaflos verbracht, weil Sie über das verpatzte Finale grübeln mussten?
Johannes Vetter: Nein, ich habe normal geschlafen. Es gab gar nicht viel zum Grübeln. Es lässt sich schwer in Worte fassen: Auf der einen Seite erwartet man, traurig zu und enttäuscht von sich selbst zu sein. Aber von allen Leuten, die mich umgeben und ein bisschen Ahnung vom Speerwerfen haben, wurde mir deutlich gemacht, dass ich einfach nichts ausrichten konnte. Das ist letztlich auch mein eigenes Gefühl.
“Haben versucht, den Spie umzudrehen”
SPORT1: Helfen Ihnen die verständnisvollen Worte Ihrer Umgebung, mit der Situation besser zurechtzukommen?
Vetter: Definitiv. Die Leute daheim, Freunde, Verwandte, aber auch das Team vor Ort haben ja die Aufnahmen gesehen und können gut einschätzen, was passiert ist. Dass es nicht alle verstehen und hier und da auch von Nervenschwäche geschrieben wird, war zu erwarten. Aber ich weiß, woran es lag. Wir haben gekämpft und versucht, den Spieß unter den gegebenen Rahmenbedingungen umzudrehen. Aber es war eine Lotterie - und vor allem nach dem zweiten Versuch unmöglich.
SPORT1: War es Ihnen schon nach der Qualifikation klar, dass es auf dieser Bahn schwer werden würde, Olympiasieger zu werden?
Vetter: Wir wussten nach der Quali, worauf wir uns einstellen mussten. Du fängst natürlich an, nach Lösungen zu suchen und probierst alles. Bernhard (Seifert, d. R.) hat am Donnerstag nach der Quali extra nochmal einen Speer in die Hand genommen, um verschiedene Spike-Nägel zu testen - obwohl er ausgeschieden war. Allein für mich. Das rechne ich ihm hoch an, ich habe mich sehr bei ihm bedankt. Er ist ein echter Teamplayer. Dann habe ich nochmal mit dem Sportpsychologen Hans-Dieter Hermann aus Mainz gesprochen, um das Mentale auf Kurs zu halten. Die Anspannung war da, die Vorfreude riesengroß, die Erwartungen natürlich auch. Ich habe mich super gefühlt.
SPORT1: Und dann macht einem die Anlaufbahn einen Strich durch die Rechnung ...
Vetter: Die Würfe, das hat mir der Biomechaniker aus Leipzig bestätigt, sahen sehr gut aus. Die Positionen haben gepasst, technisch sah es gut aus, vor allem der zweite Wurf. Da hätte man nur richtig hinstemmen müssen - und dann geht die Post ab. Dann führen wir heute ein ganz anderes Interview. Das ist einfach so bitter, man fühlt sich betrogen, nach dem Wettkampf war es ein leeres Gefühl von Machtlosigkeit. Ich konnte machen, was ich wollte. es ging einfach nicht. Das zu erklären, geht sehr in das Technisch-Spezifische, für einen Laien ist es schwer, das nachzuvollziehen.
SPORT1: Selbst der Laie konnte aber im zweiten Versuch sehen, dass Sie Ihre Technik auf diesem Belag schwer umsetzen konnten ...
Vetter; Ja, wir haben trotzdem alles versucht, irgendetwas zu ändern. Erst beim Einwerfen, dann von Wurf zu Wurf. Aufgrund meiner Anlaufgeschwindigkeit, meiner Art, wie ich stemme und werfe, war es letztlich eine unmögliche Sache. Du kannst die Technik nicht komplett verändern und beispielsweise von oben stemmen, wie das Neeraj Chopra, die Tschechen oder Julian (Weber, d. R.) machen. Ich stemme flach mit der Ferse beim Stemmbein gegen den linken Block, die anderen kommen eher von oben. Deswegen sind sie in ihrem Leistungsbereich bei 85 bis 87 Meter limitiert, meiner liegt aber normalerweise bei 90 plus.
Zurück ins Stadion? “Höchstens wenn der Belag rausgerissen wurde”
SPORT1: Angenommen, Sie hätten den Vorkampf überstanden und noch drei weitere Versuche gehabt: Hätten Sie sich es zugetraut, trotzdem noch zu gewinnen?
Vetter: Diese Frage darf man sich nicht stellen. Es ist jetzt, wie es ist. Man hätte höchstens eine Stelle im Belag finden müssen, bei dem es vielleicht geklappt hätte. Die habe ich in den ersten drei Versuchen nicht gefunden.
SPORT1: Im Vorfeld hatten Sie sich zuversichtlich gezeigt, nachdem Sie erfuhren, dass die Organisatoren einen Belag der Firma Mondo wählten. Dann kam die böse Überraschung ...
Vetter: Ich wusste nur, dass es ein Mondo-Belag ist - von der neuen Technologie habe ich nichts gewusst. Wir haben uns nach Qualifikation ganz frech ein Stück aus der Bahn geschnitten - und da sieht man diese eklatante Unterschiede. Das sieht ein Blinder mit Krückstock. Da sind Blasen drunter, damit dieser Bounce-Effekt entsteht. Deswegen gab es auch auf vielen Laufstrecken Weltrekorde und Olympische Rekorde. Uns Speerwerfern kommt das aber überhaupt nicht zugute. Viele starke Mitkonkurrenten, die ähnlich stemmen wie ich, hat es schon in der Quali erwischt, wie Keeshorn Walcott oder Cheng Chao-tsun. Sie haben alle nach ihren Würfen ratlos auf den Belag geschaut und sich aufgeregt.
SPORT1: Sie sind bei der Abschlussfeier nicht im Stadion. Wollten Sie nicht noch einmal dieses Stadion betreten?
Vetter: Genau. Wenn ich mir dieses Stadion ein drittes Mal von innen anschaue, dann höchstens wenn der Belag rausgerissen wurde.
SPORT1: Welche Wettkämpfe stehen jetzt noch an?
Vetter: Ich habe noch ein bisschen was vor mir. ich werfe erstmal am nächsten Sonntag daheim in Offenburg. Dann Lausanne, Paris und Zürich im Rahmen der Diamond League, ein Wettkampf in Polen und zum Abschluss das ISTAF in Berlin. Das ist der Plan.