2016 war das große Jahr des deutschen Handballs. Im Januar wurde das DHB-Team Europameister, knapp sechs Monate später holte es in Rio Olympia-Bronze.
Die Handball-Schmach und ihre Folgen
Fünf Jahre später ist vom damaligen Glanz nicht mehr viel übrig. Nur einmal - bei der WM im eigenen Land 2019 - stand die Auswahl bei großen Turnieren seitdem im Halbfinale. (EXKLUSIV: Heiner Brand im SPORT1-Interview)
Bei der letzten WM folgte dann Platz zwölf und nun das Olympia-Aus im Viertelfinale gegen Ägypten.
Resultate, die drängende Fragen rund um die deutsche Nationalmannschaft aufwerfen. SPORT1 hat mit Weltmeister-Trainer Heiner Brand und Weltmeister-Keeper Henning Fritz gesprochen und gibt Antworten.
Wie konnte es zu dem schmerzhaften Viertelfinal-Aus kommen?
Die bitterste Erkenntnis zu dieser Frage liefert Trainer-Legende Brand bei SPORT1. “Die deutsche Mannschaft hatte in diesem Spiel im Endeffekt keine Chance”, sagte der 69-Jährige, der sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister wurde.
Aber wie kann das sein? Ägypten ist eine starke Mannschaft und sicherlich nicht zu unterschätzen. Aber im Vorfeld von Olympia hat das DHB-Team noch mit 29:27 gewonnen.
Als es jedoch darauf ankam, konnten die Deutschen nicht an ihre Leistungsgrenze gehen. “Wenn du auf allen Positionen ein paar Prozent weniger hast als der Gegner, reicht es eben nicht aus”, erklärt Ex-Torwart Henning Fritz, 2007 unter Brand Weltmeister, bei SPORT1.
Das Hauptproblem des Teams ist in den Augen des 46-Jährigen die mangelnde Kontinuität in den Leistungen. “Die fehlt vor allem im Angriff”, analysiert Fritz.
Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Auch wenn die DHB-Auswahl bei den letzten drei großen Turnieren nie ins Halbfinale gekommen ist, zählt sie nach Einschätzung der Experten noch immer zur erweiterten Weltspitze. “Der deutsche Handball steht sicherlich nicht ganz oben, das kann man nach den letzten Resultaten sagen. Aber er gehört immer noch in die Spitze hinein”, fasst es Brand zusammen.
Das Team von Alfred Gislason könne “punktuell die absoluten Spitzenmannschaften schlagen”, ist sich Fritz sicher. Um ein großes Turnier aber zu gewinnen und sich gegen sämtliche Favoriten durchzusetzen, “fehlt uns in den entscheidenden Minuten die Sicherheit im Angriff”.
Dies sei auch an den knappen Niederlagen in der Olympia-Vorrunde gegen Frankreich und Spanien abzulesen gewesen. Zudem dürfe man gerade Platz 12 bei der WM nicht überbewerten, meint Brand: “Ob man am Ende Sechster oder Zwölfter wird, entscheiden Kleinigkeiten.”
Wie sieht die Zukunft des deutschen Handballs aus?
Brand und Fritz sind sich einig, dass es zumindest in Teilen eines Neuaufbaus bedarf. “Die Mannschaft ist von der Altersstruktur her nicht die jüngste”, gibt Brand zu bedenken, “es sind schon einige Spieler klar über 30 und einige an der Grenze”.
Auch Fritz regt an, sich jetzt klare Gedanken über die Zukunft zu machen. “Es gilt jetzt zu analysieren, mit welchem Kader der Bundestrainer langfristig planen kann, um eine schlagkräftige Mannschaft aufbauen zu können”, fordert der gebürtige Magdeburger.
Dafür wird allerdings frisches Blut gebraucht. “Als ganz Junger ist im Augenblick nur Juri Knorr dabei”, zeigt Brand ein Problem des Teams auf: “Sicherlich wird Wolff im Tor noch einige Jahre spielen können. Mit Timo Kastening und Johannes Golla ist schon ein Fundament da.”
Grundsätzlich aber sieht er wie auch Fritz den deutschen Handball gut aufgestellt, “weil auch in der Bundesliga jetzt viele Junge zum Einsatz kommen, die ihre Erfahrungen sammeln können. Aber man darf die individuelle Ausbildung nicht außen vor lassen. Man muss anerkennen, dass Mannschaften wie Frankreich oder Ägypten individuell besser besetzt sind, zumindest was die Angriffsleistung betrifft.” Es besteht also durchaus Nachholbedarf.
Was wird aus Uwe Gensheimer?
Kapitän Uwe Gensheimer gehört mit seinen 34 Jahren schon lange zu den von Brand angesprochenen älteren Spielern. Auch in Tokio konnte er - wie schon bei den Turnieren zuvor - nicht mehr überzeugen.
Vom Kapitän habe er sich “sicherlich mehr Durchsetzungskraft, aber auch mehr Einsatzzeiten gewünscht. Aber Gislason wird seine Gründe gehabt haben, warum er auch gegen Ägypten nicht gespielt hat”, meinte Brand.
“Dass er mit Sicherheit selbst nicht zufrieden ist mit seinen Einsatzzeiten und mit den gebrachten Leistungen, darüber sind wir uns alle einig”, pflichtet Fritz bei, betont aber auch: “Uwe Gensheimer hat unglaublich gute Leistungen im Verein und in der Nationalmannschaft gezeigt.”
Er wolle zwar nichts vorwegnehmen, betont Fritz. Die Zukunft müsse er mit dem Bundestrainer selbst klären. Im Endeffekt jedoch sei zu konstatieren, dass der Linksaußen in den letzten Turnieren nicht immer die gewohnte Form abrufen konnte. Daher gelte es, “daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen”.
Wie sicher sitzt Alfred Gislason noch im Sattel?
Der Bundestrainer steht für beide Experten nicht ernsthaft zur Disposition. “Man sollte auch hier alles auf den Prüfstand stellen”, meint Fritz zwar, “es macht aber auch keinen Sinn, alles über den Haufen zu werfen, wenn man die Ziele nicht erreicht hat.”
Nach den Trainer-Wechseln von Dagur Sigurdsson (bis 2017) auf Christian Prokop (2017 bis 2020) wünscht sich Fritz jetzt Vertrauen in Gislason. “Ich glaube, dass es auch da gilt, eine gewisse Konstanz reinzubringen. Alfred Gislason braucht keinem zu beweisen, was er kann in diesem Amt”, stellt der Weltmeister-Keeper von 2007 klar.
Auch Brand stärkt seinem indirekten Nachfolger den Rücken. “Er hat einen sehr souveränen Eindruck hinterlassen”, meint der Ex-Bundestrainer und führt auch die sehr kurze Vorbereitungszeit des deutschen Teams als Grund für das frühe Scheitern an: “Da ist ein Team wie Ägypten im Vorteil, das zwar einige Spieler in Frankreich oder Spanien hat, sich aber insgesamt besser und länger auf so ein Turnier vorbereiten kann. So etwas muss man nicht unbedingt am Trainer festmachen, sondern insgesamt betrachten.”
War die Gold-Ansage von DHB-Vize Bob Hanning falsch?
Brand und Fritz finden deutliche Worte für die ambitionierte Zielsetzung des Funktionärs.
“Ich finde, damit setzt man die Mannschaft extern extrem unter Druck”, kritisiert Fritz Hanning: “Ich finde wichtig, dass so eine Zielsetzung aus der Mannschaft kommt. Denn sie muss ja im Endeffekt auch dahinterstehen.”
Brand sieht es ähnlich: “Man muss festhalten, wer dieses Ziel ausgegeben hat, es waren nicht die Handballfachleute. Alfred Gislason wollte zwar ins Halbfinale kommen, was möglich gewesen wäre. Die andere Geschichte war Bob Hanning, der schon 2013 von der Goldmedaille in Tokio gesprochen hat. Das muss man trennen von dem, was die Mannschaft gesagt hat. Die Mannschaft war sich ebenso wie der Trainer der Schwere der Aufgabe bewusst.”
“Ob es sinnvoll ist, so etwas schon viele Jahre im Vorfeld zu kommunizieren, müssen die gefragt werden, die diese Äußerung tätigen”, stimmt auch Fritz zu.