Formel-1-Fans haben ein feines Gespür für das Besondere. Beim Großen Preis von Japan wählten sie nicht Dominator Max Verstappen, nicht den britischen Jungstar Lando Norris und auch nicht Lichtgestalt Lewis Hamilton, der sich extrem kämpferisch gegen die Revieransprüche seines Teamkollegen George Russell wehrte, zum Fahrer des Rennens.
Er erinnert an Michael Schumacher
Die Formel-1-Enthusiasten gaben ihr Votum für den jungen Australier Oscar Piastri (22) ab. Sie zollten dabei nicht nur seiner ersten Podiumsplatzierung (Rang drei) all ihren Respekt, sondern vielmehr der Tatsache, dass Piastri Woche für Woche eine eiserne Regel bricht, die für die Formel-1-Protagonisten wie ein festgeschriebenes Gesetz gilt: Dass ein Neuling in der modernen automobilen Königsklasse, in der so gut wie keine Testfahrten mehr erlaubt sind, mindestens drei Jahre braucht, um mit den erfahrenen Cracks mithalten zu können.
AlphaTauri-Teamchef und Nachwuchsexperte Franz Tost bringt es bei SPORT1 auf den Punkt: „Eigentlich ist ein junger Fahrer in der heutigen, extrem komplexen Formel 1 erst nach drei Jahren so weit, alles einigermaßen perfekt hinzubekommen. Umso größer ist deshalb die Leistung zu bewerten, die Piastri schon in seinem ersten Jahr abliefert.“
Piastri: Das Gegenteil von Hamilton
Dabei entspricht der in Melbourne geborene Jungstar alles andere als dem Klischeebild, das Fans immer noch von den modernen Asphalt-Cowboys haben.
Er ist keine Glitzergestalt wie Lewis Hamilton. Er sorgt auch nicht für Schlagzeilen wie sein in Fan- und Expertenszene gleichsam beliebter extrovertierter Landsmann Daniel Ricciardo, der mit seinem kämpferischen Fahrstil nicht nur Reifen und Bremsen zum Glühen bringt, sondern auch Mädchenherzen höher schlagen lässt.
Piastri hat eher das zurückhaltende fast schüchterne Auftreten eines jungen Bankmanagers, dem man gerne sein Geld anvertraut. Für Farbtupfer in der Szene sorgt einzig Piastris Mutter Nicole, die mit ihrem Auftreten in den sozialen Medien schon eine große Fangemeinde gewonnen hat.
Auch nach dem ersten Podium ihres Filius sorgte sie für Amüsement. „Nette Arbeit heute“, schrieb sie und zeigte dabei den Japan-Pokal ihres Sohnes. „Heißt das jetzt, dass ich endlich die älteren Pokale entsorgen kann?“
Eine Einladung des McLaren-Teams nach Suzuka zu kommen, lehnte sie nach langem Zögern ab: „Danke für das nette Angebot! Aber es ist für alle besser, dass ich meine Panikattacken während des Rennens in meinen gewohnten vier Wänden habe.“
Webber formt Piastri zum Formel-1-Fahrer
Allein: Die Karriere des Supertalents, das nach innen strahlt, war sorgsam geplant. Schon früh erkannte Piastris Landsmann Mark Webber die besonderen Fähigkeiten des unscheinbar jungen Mannes aus Melbourne.
Der achtmalige GP-Sieger und ehemalige Teamkollege von Sebastian Vettel, der laut Ex-Pilot Nick Heidfeld „der beste Qualifyer war, gegen den ich je in einem Team gefahren bin“, bot vor sechs Jahren an, sich um Piastri zu kümmern – mit dem Versprechen, ihn nicht nur in die Formel 1 zu bringen, sondern auch zum Champion zu machen.
Webber holte Piastri nach England, um ihn in Europa durch die harte Schule der Nachwuchsformeln zu schicken. Gleichzeitig ließ er ihn auf eine in England angesehene Technikschule gehen, wo er die Basis über Fahrzeugtechnik und Aerodynamik lernte.
Eine seiner Klassenkameradinnen war dort Sara Frentzen, die motorsportaffine Tochter von Deutschlands Ex-Formel-1-Rennsieger Heinz-Harald. Auch ihr fiel nicht nur die ruhige, wohlerzogene Art Piastris auf, sondern auch mit wie viel Ehrgeiz und extremem Fokus der seine Lernziele anging.
Pastri: Vertrag-Zoff mit Alpine
In den Nachwuchsklassen war Piastri nicht zu stoppen. Auf Anhieb gewann er die Formel 3- und Formel-2-Meisterschaft. Trotzdem fand Webber 2022 noch kein Cockpit für seinen Wunderknaben. Alpine, Renaults Formel-1-Ableger, machte ihn immerhin zum Ersatz- und Entwicklungsfahrer. Das war Webber aber nicht genug. Als Alpine zu lange zögerte, Piastri das in Aussicht gestellte Stammcockpit für 2023 zu geben, unterschrieb Webber bei McLaren.
Dort hatte damals noch der zukünftige Audi-Formel-1-Einsatzleiter Andreas Seidl das Sagen. Webber und Seidl kannten sich gut, weil Webber bei Porsche Sportwagen fuhr, als Seidl Projektleiter für das erfolgreiche Le-Mans-Programm bei den Stuttgartern war. Auch Seidl sah das große Potential von Webbers Schützling und sicherte diesen für seinen damaligen Arbeitgeber McLaren.
Die Manager von Alpine waren pikiert, warfen Piastri Undankbarkeit und fehlende Loyalität vor, sie zogen sogar vor Gericht. Das stellte fest, dass Alpine versäumt hatte, rechtzeitig die Option zu ziehen, die sie auf Piastri hatten.
Später kam heraus, dass die Juristin von Alpine, die für Fahrerverträge zuständig war, in Urlaub war. Ein Hauptgrund für die Entlassung von Alpine-Teamchef Otmar Szafnauer Mitte diesen Jahres soll die Schmach gewesen sein, die Alpine rund um die Piastri-Posse erlitten hat.
„Supertalent!“ F1-Legende adelt Piastri
Allein: Webber beeindruckte die Zielstrebigkeit, mit der McLaren Piastri haben wollte. Das Ex-Partnerteam von Mercedes war sich auch nicht zu schade, Piastris Landsmann Ricciardo eine Ablösesumme in Höhe eines zweistelligen Millionenbetrages zu zahlen, damit der seinen gültigen Vertrag für 2023 zerreißt.
Wie groß das Vertrauen McLarens mittlerweile in die zukünftigen Fähigkeiten Piastris ist, zeigt die frühzeitige Vertragsverlängerung mit dem jungen Australier bis ins Jahr 2026. Möglichen Angeboten von Red Bull, Ferrari oder Mercedes hat man so rechtzeitig den Riegel vorgeschoben. Sky-Experte Ralf Schumacher zieht davor seinen Hut. „McLaren hat für die Zukunft sicher die beste Fahrerpaarung“, ist der ehemalige F1-Star überzeugt.
Schumacher outet sich bei SPORT1 als Fan von Piastri: „Er ist ein Supertalent. Es ist schon schwer genug, überhaupt Formel 3- und Formel-2-Meisterschaften zu gewinnen. Oscar gewann sie schon in seinem ersten Jahr. Das ist extrem außergewöhnlich. In der Formel 1 macht er jetzt genauso weiter. Wir werden noch viel Positives von ihm hören.“
Allein: Typisch für Piastri und eines seiner vielen Erfolgsgeheimnisse. Der Hype um ihn lässt ihn unbeeindruckt. Im Gegenteil: Trotz seines Erfolges in Suzuka sieht er noch extremes Verbesserungspotential.
Selbstkritisch sagt er: „Ich war in bestimmten Phasen des Rennens einfach nicht schnell genug. Diese Rennen mit hohem Reifenverschleiß sind wahrscheinlich das Wichtigste, woran ich im Moment arbeiten muss.. In allen den Nachwuchsklassen gab es das nicht. Die einzige Möglichkeit, daraus zu lernen, ist also, Rennen zu fahren.“
Fest steht: Mutter Nicole wird noch viele ältere Pokale austauschen müssen, davon sind die Experten unisono überzeugt. Nicht nur wegen seines Naturtalentes, sondern wegen seiner Einstellung, nie zufrieden zu sein.
Manager Mark Webber zu SPORT1: „Ich wusste erst, dass ich nicht gut genug war, um Meisterschaften zu gewinnen, als ich Oscar traf. Bei allem Talent: Was seine Art betrifft, immer besser werden zu wollen und sich nie auf Erfolgen auszuruhen, erinnert er mich extrem an Michael Schumacher.“