Zurück im Fahrerlager musste George Russell (21) sich nach seinem neunten Platz beim Großen Preis von Sakhir erst einmal ins Gras legen.
Ist mit diesem Auto jeder schnell?
Der Brite hatte den Sieg gleich doppelt verloren: Erst wurden ihm versehentlich und verbotenerweise die Reifen seines Mercedes-Teamkollegen Valtteri Bottas aufgeschnallt, dann hatte er auch noch einen Plattfuß. Und trotzdem hat der Engländer mit seinen 209 Führungskilometern und einer bis zum zweiten Boxenstopp dominanten Vorstellung am vergangenen Wochenende ein großes Ausrufezeichen gesetzt. (SERVICE: Fahrerwertung)
Formel 1: Russell wie einst Vettel
Ein Ausrufezeichen - allerdings mit zwei Bedeutungen. Einerseits ist da ein junger Mann mit einer herausragenden Leistung. Ein neuer Shootingstar der Szene, der genauso Eindruck hinterlassen hat wie einst Sebastian Vettel mit seinem Sieg in Monza 2008 oder Max Verstappen mit seinem Triumph im ersten Rennen für Red Bull in Barcelona 2016.
Der Brite bewegte den Mercedes W11 schon im Qualifying nur 26 Millisekunden langsamer als Bottas um den Outer Circuit in Bahrain – und war damit im Verhältnis auch fast so schnell wie der siebenmalige Weltmeister Lewis Hamilton. "Statistisch gesehen ist Valtteri im Qualifying eine Zehntel langsamer als Lewis", rechnet Russell selbst vor. "Und wir alle wissen, wie gut Lewis ist." (SERVICE: Konstrukteurswertung)
Doch genau dieser Vergleich birgt eine große Gefahr. Für Hamilton aber auch für die gesamte Königsklasse. Denn er vermittelt unwillkürlich den Eindruck: Mit diesem Mercedes kann jeder schnell sein. Den Unterschied macht in der Formel 1 ergo nicht der Fahrer, sondern das Material.
"Wenn du eine Meisterschaft gewinnen möchtest, musst du in einem Mercedes sitzen", spricht McLaren-Youngster Lando Norris aus, was die meisten denken. "Viele Fahrer könnten etwas Ähnliches erreichen und Valtteri oder sogar Lewis den Kampf ansagen. Der Mercedes ist eines der am einfachsten zu fahrenden Autos im Feld."
Carlos Sainz begibt sich verbal in den Windschatten seines Teamkollegen. "Wenn einer, der an jedem Wochenende um Platz 15 kämpft, in ein Siegerauto gesteckt wird und gleich 20 Tausendstel von der Pole weg ist, dann zeigt das für mich nur, was der Formel 1 derzeit fehlt. Wir könnten eine unglaubliche Show haben, wenn der Fahrer einen größeren Unterschied machen kann", sagte Sainz.
Sainz: Gibt nur zwei Mercedes im Feld"
Sainz will Hamilton den Erfolg nicht absprechen, räumt aber ein: "Ich glaube, dass Lewis einer der besten Fahrer im Feld ist und einer der talentiertesten der Geschichte. Aber das werden wir nie wissen, weil es nur zwei Mercedes im Feld gibt. Und das ist mein Punkt."
Heißt auch: Mit seiner starken Leistung beim Silberpfeil-Debüt kratzt Russell am Denkmal seines britischen Landsmanns. Weil der superschnelle Mercedes mehr Wert scheint als die Fahrkünste eines Lewis Hamilton. Und weil er den Eindruck mit seiner Beschreibung des Weltmeisterautos 2020 auch noch untermauert.
Russell schwärmt geradezu vom W11: "Der Mercedes hat einfach so viel mehr Grip und eine um so viel bessere Vorderachse in jeder Phase der Kurve. (…) Ich konnte gar nicht glauben, wie gut das Auto zum Beispiel über die Randsteine (…) ist. Es ist einfach schneller. Was die Jungs bei Mercedes in Brackley da hingestellt haben, ist einfach unglaublich."
Konkurrenten huldigen Hamilton
Hat ein vermeindlicher Überfahrer à la Hamilton oder Schumacher also gar keinen Wert mehr? Doch, findet Max Verstappen (23), selbst eines der herausragenden Naturtalente im Feld. "So einer wie Lewis wird in den entscheidenden Momenten den Unterschied machen. Darum ist er ja siebenmaliger Weltmeister." Und auch Russell räumt ein: "Typen wie Lewis machen den Unterschied, wenn am meisten Druck auf dem Kessel ist, in Schlüsselsituationen. Das hat ihn über all die Jahre ausgezeichnet."
Fest steht: Das brillante Russell-Debüt im Mercedes hat eine Diskussion ausgelöst, in der es keine endgültige Antwort gibt. Sehr wohl aber unterschiedliche Herangehensweisen. Denn die Beweisführung im Vergleich zwischen Hamilton und seinem Ersatzmann Russell könnte man ja auch andersherum erbringen. Vielleicht war es ja nicht nur der Mercedes, der George Russell so schnell gemacht hat. Vielleicht ist dieser junge Mann aus England einfach genau das: der nächste Lewis Hamilton.