Ist Hans Niemann ein Wunderkind oder ein Betrüger?
19-Jähriger spaltet die Schachwelt
Aktuell gibt es keine Frage, die die Schachwelt mehr in Atem hält. Erneut angefacht wurde die Diskussion von Superstar Magnus Carlsen durch seine Aktion beim Julius Baer Generations Cup.
Bei diesem Online-Wettbewerb, der auf Chess24 gestreamt wird, spielte Carlsen genau einen Zug - um dann nach nicht mal einer Minute einfach vom Bildschirm zu verschwinden.
Die Kommentatoren waren entsetzt, sein Kontrahent Hans Niemann zuckte einfach mit den Schultern und beendete dann ebenfalls die Verbindung. (NEWS: Nächster Schach-Eklat um Carlsen)
Es war bereits das zweite Mal, dass ein Aufeinandertreffen dieser beiden in der sonst eher als gesittet bekannten Schach-Szene für einen Eklat sorgte - und wieder wurde dieser von Carlsen ausgelöst. Schon Anfang September hatte der Norweger sich nach einer überraschenden Niederlage gegen Niemann beim Sinquefield Cup des Saint Louis Chess Clubs zurückgezogen.
Er unterstellte dem Amerikaner ganz offensichtlich Betrug, hat dies bislang aber nicht offiziell ausgesprochen. (NEWS: Carlsen reagiert nach Schach-Eklat)
Niemann ein Betrüger? Das sagt der Experte
Trotzdem ploppten sofort Betrugsvorwürfe gegen den 19-Jährigen auf. Selbst eine kuriose Theorie, dass mit vibrierenden Analkugeln Züge übermittelt wurden, wurde diskutiert. Sogar Elon Musk zeigte sich von diesem Schach-Thriller bei Twitter begeistert.
Ein Betrüger scheint der 19-Jährige jedoch nicht zu sein - zumindest nicht, wenn es nach Dr. Ken Regan geht. Der Experte für Computerbetrug widersprach im Gespräch mit chessbase.com dieser Unterstellung. Er erklärte, dass er sämtliche Niemann-Partien der vergangenen zwei Jahre - einschließlich Online-Partien - untersucht habe. Diese Analyse habe demnach keinen Grund geliefert, dem Youngster Betrug zu unterstellen.
Vor allem seine Partien im Schachturnier Capablanca Memorial 2022 in Kuba wurden im Netz immer wieder als hochverdächtig eingestuft. Aber gerade diese haben gezeigt, dass Niemanns Spiel eigentlich durchschnittlich war. Vielmehr hätten seine Gegner unterdurchschnittliche Leistungen gebracht, weswegen Niemann die Spiele wohl gewinnen konnte.
Obwohl Niemann nach dem ersten Eklat beim Sinquefield Cup gestanden hatte, in früheren Jahren bereits betrogen zu haben - „Ich habe bei zufälligen Spielen auf chess.com geschummelt. Ich wurde konfrontiert. Ich habe gestanden. Und das ist der größte Fehler meines Lebens“ - treffen die aktuellen Vorwürfe laut Dr. Regan nicht zu.
Niemann wohl auch kein Wunderkind
Ist Niemann also doch ein Wunderkind, das Carlsen Paroli bieten kann?
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Großmeister Hikaru Nakamura sieht den Youngster schon deswegen als verdächtig an, weil seine Verbesserungsrate schneller ist als bei anderen Wunderkindern. Wirft man aber einen genaueren Blick auf dessen Entwicklung, muss man dieser Meinung nicht unbedingt zustimmen. Mit 19 Jahren ist Niemann noch jung, hinkt Vertretern seiner Generation aber schon hinterher.
Er ist im gleichen Alter wie Alireza Firouzja, der besagten Sinquefield Cup gewinnen konnte, liegt im FIDE-Rating (Wertungssystem für Spielstärke) aber in allen Disziplinen deutlich hinter dem Franzosen.
In Sachen Rating ist Niemann aktuell eher mit dem Usbeken Nodirbek Abdusattorov und dem indischen Duo Rameshbabu Praggnanandhaa und Dommaraju Gukesh zu vergleichen. Diese sind aber ein bis drei Jahre jünger als der umstrittene US-Amerikaner. Er scheint also auch nicht das vermutete Wunderkind zu sein.
Schacherfolg erst durch Corona
Überhaupt ist der 19-Jährige erst spät zum Schach gekommen. Zwar begann er schon mit acht Jahren - die Leidenschaft des damals in den Niederlanden wohnenden Niemann galt seinerzeit aber noch dem Radsport. In seiner Altersklasse gehörte er zu den besten Fahrern des Landes.
Nach der Rückkehr seiner Familie in die USA verstärkte er dann seine Ambitionen im Schach und wurde 2016 FIDE-Meister. Zwei Jahre später erhielt er den Titel Internationaler Meister, wobei ihm auch seine erste Großmeisternorm gelang. Danach ließ er den Schachsport jedoch wieder schleifen.
Die Verbindung hielt er hauptsächlich über seine Tätigkeit als Schachlehrer, um Geld zu verdienen.
Infolge der Corona-Pandemie ging diese Einnahmequelle jedoch verloren und er konzentrierte sich wieder mehr auf online Blitzschach, was er auf Twitch streamte. Bei einem Turnier in Spanien erreichte er im Dezember 2020 erstmals eine Elo-Zahl von 2.500 Punkten und bekam damit den Großmeistertitel verliehen.
Schon jetzt fiebern Experten und Fans dem nächsten Aufeinandertreffen der beiden entgegen. Sollte Carlsen wieder für einen Eklat sorgen, muss er langsam auch Beweise liefern. Ansonsten stellt sich nicht mehr die Frage, ob Niemann ein Wunderkind oder Betrüger ist. Irgendwann fragt man sich dann nur noch: Ist Carlsen einfach ein schlechter Verlierer?