Leicht verwundert sprach Gina Lückenkemper, Doppel-Europameisterin und Deutschlands Aushängeschild im 100-Meter-Sprint, vor Beginn des diesjährigen Saisonhöhepunkts über einen unverkennbaren Trend: „Es ist schon ein bisschen extrem, wie viele Athleten auf Weltniveau gerade ausfallen.“
Bedenklicher Verdacht bei WM
Dass bei den permanent besser werdenden Leistungen das Material eine entscheidende Rolle spielt, ist längst kein Geheimnis mehr. Der neueste Trend aber, speziell für die Leichtathletik entwickelte Carbon-Schuhe, polarisiert - und wirbelt den Sport aufgrund wachsender Verletzungssorgen durcheinander.
Betroffen ist vor allem auch die deutsche Mannschaft, die bei der WM auf etliche Top-Athleten verzichten muss.
Spielen die „Wunderschuhe“ dabei eine Rolle? Sind sie mehr Segen als Fluch? Eine intensive Diskussion innerhalb der Szene ist jedenfalls in vollem Gange.
Leichtathletik-WM: Diskussion um Carbon-Schuhe
Seit die Hightech-Treter vor einigen Jahren populär wurden, sind sie ein Phänomen. Solche Schuhe „lassen die, die sie tragen, im Durchschnitt zwei bis vier Prozent schneller laufen als die Sportler, die normale Schuhe tragen“, betonte Olaf Ueberschär, Professor für Mensch-Technik-Interaktion und Biomechanik, in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung.
Und tatsächlich: Die Leichtathletik ist schneller geworden, immer häufiger fallen Weltrekorde. „Es ist der Hammer, was da für eine Entwicklung stattgefunden hat“, zeigte sich Frank Busemann als ARD-Experte bei der WM in Budapest fasziniert. Die Wettkampfdichte sei sehr hoch, „dann kommt noch das Material hinzu, Carbon-Schuhe tun ihr eigenes“, sagte der 48-Jährige.
Die Schattenseite: Das neue Equipment stelle zwar ein „explosives Gemisch für gute Leistungen“ dar, es könnte allerdings „auch für Verletzungen“ mitverantwortlich sein, schränkte Busemann ein. Lückenkemper trat deshalb ebenso auf die Euphoriebremse: „Diese ganze Entwicklung mit den Carbon-Schuhen ist mit Vorsicht zu genießen. Die sind aggressiver. Ich glaube, das wird uns in den kommenden Jahren noch beschäftigen.“
Lückenkemper hat Sorgen, kommt aber selbst „sehr gut zurecht“
Viele WM-Favoriten leiden derzeit unter Blessuren. Nafissatou Thiam, Siebenkampf-Olympiasiegerin aus Belgien, musste auf den Kampf um WM-Gold wegen Achillessehnenproblemen verzichten. Hürden-Weltrekordlerin Sydney McLaughlin-Levrone aus den USA fiel wegen Knieproblemen aus.
„Wenn man sich mit den Athleten unterhält, ist es extrem, festzustellen, wie viele aktuell mit Achillessehnen- oder Fußproblemen zu tun haben“, sagte Lückenkemper in Budapest.
Nicht jedes dieser Probleme ist auf die Schuhe zurückzuführen: Beim soeben im Zehnkampf ausgeschiedenen Niklas Kaul war ein eigener technischer Fehler verantwortlich, wie er klarstellte.
Auch Lückenkemper, für die über die 100 Meter wieder einmal im Halbfinale Schluss war, sagt in Bezug auf sich, sie komme mit den Super-Tretern „sehr gut zurecht“.
Mittelstrecken-Ass Robert Farken im Zwiespalt
Zu den leidgeprüften Sportlern gehört dagegen Deutschlands bester Mittelstreckenathlet Robert Farken. Nachdem der 25-Jährige das gesamte letzte Jahr wegen eines erst spät festgestellten Vitamin-D-Mangels verpasste hatte, startete er stark in die neue Saison, ehe sich im Juni die Achillessehne meldete - und ihn nicht mehr schmerzfrei laufen ließ.
Für Farken war es das nächste verlorene Jahr - und dennoch befürwortet er die technische Weiterentwicklung der Schuhe, obwohl sie wahrscheinlich (mit-) verantwortlich für seine Probleme sind.
„Sicherlich ist es nicht schön, wenn dadurch Verletzungen entstehen und erfolgreiche Saisons verhindern, aber das gehört leider zu diesem Prozess irgendwo dazu“, sagte Farken bei SPORT1. „Ich hatte in diesem Jahr offensichtlich mit diesen Veränderungen zu kämpfen, wobei man dazu sagen muss, dass mein Körper durch die lange Zwangspause im vergangenen Jahr natürlich noch weniger an das Material angepasst und somit anfälliger war.“
Schon im Jahr 2017 startete der amerikanische Sportartikelhersteller Nike die Herstellung dieser neuartigen Schuhen, die mittlerweile von nahezu der gesamten Konkurrenz kopiert wurden. Das ausgetüftelte Konzept: in Kombination mit einem hochreaktiven Schaum soll die integrierte Carbonplatte einen Katapulteffekt erzeugen. So lauten die Vermutungen, dass von den Sprintdistanzen bis zum Marathon überall das Tempo gestiegen ist.
Für das Jahr 2024 - das steht bereits fest - hat der Weltverband eine Regeländerung festgelegt. Dann gilt: die Sohle muss eine Dicke von 20 Millimetern haben. Aktuell sind je nach Wettbewerb noch 20 bis 40 Millimeter möglich. Außerdem wird es zur Pflicht, dass die Schuhe im freien Handel verfügbar sein müssen, um Chancengleichheit zu wahren.
Probleme „vielleicht gravierender als der Vorteil“?
Ob die aktuell hohe Anzahl der Ausfälle wirklich im Zusammenhang mit den modernen Tretern steht, ist aber nicht zwingend sicher.
„In Bezug auf den Freizeitläufer konnten wir zeigen, dass bei diesen Technologien eine erhöhte Verletzungshäufigkeit auftritt. Es gibt aber noch keine belastbaren Untersuchungen an Top-Athleten“, erklärte Professor Gert-Peter Brüggemann, der viele Jahre das Institut für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule in Köln leitete, in einem Interview mit dem ZDF.
Ueberschär warnt dennoch: „Man sieht jetzt auch die negative Seite und schaut, ob die Probleme in der Gesamtbilanz vielleicht tatsächlicher gravierender sind als der Vorteil durch den Carbon-Schuh.“
Robert Farken ist indes optimistisch, die Probleme in den Griff zu bekommen: „Ich bin sicher, dass wir für die kommenden Phasen und vor allem für die Olympischen Spiele ein Rezept finden werden, um mit dem neuen Impuls aus den Füßen entsprechend zu arbeiten.“