Das deutsche Team geht bei der WM in Budapest nach einer Absageflut von potenziellen Medaillenkandidaten mit gedämpften Aussichten an den Start.
Drechsler: Olympia in Deutschland
Heike Drechsler bedauert im SPORT1-Interview - nicht nur wegen des großen Lazaretts - die Entwicklung im DLV und plädiert für eine Reform im deutschen Sport. Als Initialzündung plädiert sie für Olympische Spiele in Deutschland.
Bei der WM, die die zweimalige Olympiasiegerin und erfolgreichste deutsche Leichtathletin der vergangenen Jahrzehnte live im Stadion verfolgen wird, ist sie vor allem auf den Zehnkampf mit einem ganz besonderen Duell gespannt.
SPORT1: Frau Drechsler, heute beginnt die Leichtathletik-WM und man hat den Eindruck, als sei das deutsche Team durch die vielen Verletzungen schon im Vorhinein so gut wie chancenlos. Wie sehen Sie das?
Heike Drechsler: Ja, es sind viele verletzt und das ist sehr schade. Aber nichtsdestotrotz kann es auch immer Überraschungen geben. Wir haben zum Beispiel die Diskuswerferinnen mit Kristin Pudenz und auf den Zehnkampf mit Niklas Kaul und Leo Neugebauer freue ich mich auch. Ich hoffe nur nicht, dass sich irgendein Dritter freut, wenn zwei sich streiten (lacht). Dieses Duell ist einfach klasse. Ich bin sehr gespannt.
„Wenn man Johannes Vetter sieht...“
SPORT1: Was glauben Sie, wer von den beiden eher auf dem Treppchen stehen wird?
Drechsler: Ich glaube, dass Niklas mental der Stärkere ist. Er hat einfach mehr Erfahrung.
SPORT1: Glauben Sie, dass die Verletzungsmisere in diesem Ausmaß Zufall sein kann? Oder steckt mehr dahinter?
Drechsler Die meisten, die es betrifft, haben schon einige Wettkampfjahre hinter sich. Und wenn du dann schon über zehn Jahre im Sport bist, können natürlich auch Verletzungen kommen. Wenn man zum Beispiel im Speerwerfen Johannes Vetter sieht, mit welcher Wucht er wirft, kann man nicht ausschließen, dass mit der Zeit gesundheitliche Probleme auftreten. Nur in der Fülle ist es ärgerlich, aber daran sieht man, dass wir weder an der Basis noch in der Spitze wirklich viele Athleten haben, die dann nachrücken könnten
SPORT1: Das scheint ein grundsätzliches Problem im deutschen Sport zu sein…
Drechsler: Ja, und wir müssen langsam anfangen zu überlegen, was wir besser machen können. Eine Breite für die Leichtathletik zu gewinnen, wäre erforderlich, aber das ist schwierig. Vielleicht müssen wir auch mal zufrieden sein und kleinere Brötchen backen. Es hat alles seine Ursachen. Wenn wir kein Talentsichtungsprogramm und kein Geld für Nachwuchstrainer haben, dann müssen wir uns nicht wundern.
SPORT1: Andererseits haben die deutschen Leichtathleten kürzlich bei der U20-EM in Jerusalem mächtig aufgetrumpft…
Drechsler: Ja, aber in diesem Bereich sind wir immer stark. Aber dann fängt es schon an zu bröckeln, wenn es in die U23 geht und ganz oben wird es dann noch weniger. Da muss man endlich mal Ursachenforschung betreiben.
„Wir brauchen Olympische Spiele in Deutschland“
SPORT1: Wenn man die letzten internationalen Titelkämpfe Revue passieren lässt, dann ist augenscheinlich, dass kleinere Nationen wie die Niederlande oder die Schweiz uns in vielen Disziplinen schon abgehängt haben. Was machen diese Länder besser?
Drechsler: Machen wir uns nichts vor, die schlafen ja auch nicht! Wir sind in einer Welt der Digitalisierung, der Transfer von Wissen geht viel schneller. Wir müssen zusehen, dass wir wieder die Strukturen für unseren Sport aufbauen. Jetzt sage ich es klipp und klar: Wir brauchen Olympische Spiele in Deutschland, damit das passiert! Wenn ich sehe, welches Budget die Engländer für die Spiele in London (2012, d. R.) auf die Beine gestellt haben, dann wundern ihre Erfolge nicht. Die haben die besten Trainer eingestellt und wirklich etwas bewegt - nicht nur in der Leichtathletik. Olympia kann eine große Chance sein, dass man wieder mehr Gelder zur Verfügung hat, um die Strukturen für den Sport aufzubauen. Es müssen keine neuen Anlagen sein, aber vielleicht sollte mal drüber nachdenken, dass man vielleicht einen Sportminister braucht, der sich nur um die Belange der Sportler kümmert.
SPORT1: Genügt das, um dem Sport wieder auf die Beine zu helfen?
Drechsler: Es gibt natürlich ein breites Freizeitangebot für die jungen Leute, die heute aufwachsen, das spielt alles eine Rolle. Deswegen müssen wir etwas für die Attraktivität unserer Sportart tun. Wir müssen klar machen, dass Leichtathletik eine Grundsportart ist. Wenn das in den Schulen nicht mehr gelebt wird und bei den Bundesjugendspielen der Leistungsgedanke wegfällt, dann hilft das nicht. Diese Entwicklung ist sehr bedauerlich. Wir brauchen in der Politik mehr Lobby. Die Sportler oder zumindest die, die Arbeit machen, sehen ja die Probleme. Die Trainer benötigen eine größere Unterstützung.
SPORT1: Einige der besten deutsche Trainer arbeiten im Ausland...
Drechsler: Ja, genau, das muss man alles hinterfragen, auch die Sportsysteme in den einzelnen Ländern. In den USA hat man mit den Colleges ganz andere Voraussetzungen im Sport, auch in England sind die Möglichkeiten wesentlich besser. Bei uns fehlt das in den Strukturen komplett. Das ist traurig für so eine große Nation wie Deutschland, dass wir andere Prioritäten haben. Also gerade für die jungen Sportler fände ich es toll, wenn da etwas passiert würde.
SPORT1: Um nochmal auf die Verletzungen zu sprechen zu kommen: Gina Lückenkemper meinte, dass es an den Carbonschuhen liegt, dass diese Häufigkeit jetzt auftritt. Glauben Sie, dass es damit zusammenhängen könnte?
Drechsler: Es ist sicherlich die Mehrbelastung auf der Bahn. Wenn man die Muskulatur nicht gut vorbereitet, wenn eine schlechte Basis da ist, auch von der Technik her, dann entstehen auch schneller Verletzungen. Dass die Carbonschuhe nicht förderlich sind, kann schon sein, die sind ja ziemlich hart. Ich glaube, dass man solche Schuhe im Training nicht oft trägt. Aber bei manchen Athleten habe ich das Gefühl, dass die Basis ein bisschen fehlt und auch technische Defizite da sind, was häufig zu Verletzungen führt.
Mihambos Absage? „Kann ich gut nachvollziehen“
SPORT1: Sie selbst hatten eine äußerst erfolgreiche Karriere und waren selten verletzt…
Drechsler: Ich hatte gute körperlichen Voraussetzungen und habe von Kindesbeinen an sehr vielseitig trainiert. Das sind ein bisschen meine Bedenken, dass die U20-Junioren, die jetzt so stark sind, schon ausgepowert sind und nicht schwerpunktmäßig an der Technik gearbeitet haben. Aber Technik entwickelt man in der Leichtathletik in einem frühen Alter. Das ist, wie wenn man Mathematik oder Deutsch lernt, da startet man ja auch bei der Grundbasis. Man fängt nicht von oben nach unten an, und da fehlt es bei vielen. Es sind nicht so viele gute Trainer da, die ein Auge darauf haben, wie man Technik-Training gut methodisch vermittelt. Ich bin seit zwölf Jahren bei einem Grundschul-Sportfest in Gera und sehe, dass die Kinder schon beim richtigen Laufen immer mehr Koordinationsprobleme mit ihren Füßen haben. Wenn sie im Sport nicht mal die ganz kleinen Grundbewegungen lernen, dann wird es natürlich schwierig, wenn es spezifischer wird.
SPORT1: Das war in Ihrer Jugend noch ganz anders, oder?
Drechsler: Zu DDR-Zeiten hatten wir diesbezüglich Vorteile, weil wir eine gute Grundbasis bekommen haben. Und das fehlt jetzt leider ein bisschen. Es gibt sicherlich Trainer, die das super machen, aber es sind zu wenige. Es wird zu schnell spezifisch trainiert und dann kommt zu früh die Kraft dazu. Und dann hast du natürlich keine Steigerung mehr nach oben.
SPORT1: Kommen wir zurück auf die WM. Können Sie nachvollziehen, dass Malaika Mihambo in Budapest fehlt, weil sie im Hinblick auf Olympia 2024 lieber nichts riskieren wollte?
Drechsler: Das kann ich gut nachvollziehen, weil sie schon über viele Jahre immer vorne dabei war. Und das kostet natürlich Kraft. Wenn sie sich gut gefühlt hätte, wäre sie bestimmt an den Start gegangen. Aber jetzt noch mal richtig gut und gesund auf Olympia in Paris zu trainieren, das verstehe ich. Manchmal braucht man solche Jahre, um wieder neue Kraft zu schöpfen, um dann wirklich dieses ganz große Ziel anzugehen.
SPORT1: Eine andere Athletin, die eine Ihrer früheren Disziplinen bestreitet, ist die Sprinterin Gina Lückenkemper. Wie sehen Sie Ihre Entwicklung?
Drechsler: Sie hat das Pech, dass eine breite Masse an Sprinterinnen da ist, die unter 11 Sekunden laufen können. Sie hat ja das Ziel, ins Finale zu kommen, aber das wird eine harte Nummer, wenn man die Bestenliste sieht. Man darf sie nicht mit den Konkurrentinnen, die an die 10,70 laufen, vergleichen. Ich glaube, sie wird top vorbereitet sein und ich hoffe, sie behält ihre Coolness. Sie kann auch Bestleistung laufen, die Bedingungen sind ja sehr gut und Konkurrenz beflügelt ja auch. Wer weiß, es kann vieles passieren. Entscheidend wird sein, dass sie sich auf ihre Beine konzentriert und von Lauf zu Lauf steigert. Sie macht immer einen konzentrierten Eindruck und ist ein echt cooler Typ.
SPORT1: Wem trauen Sie, in Abwesenheit von Mihambo, die Goldmedaille im Weitsprung zu?
Drechsler: Ich sehe die Italienerin Larissa Iapichino ganz vorn.
SPORT1: Die Tochter von Fiona May, gegen die Sie auch noch gesprungen sind…
Drechsler: Genau. Sie hat ein Talent für die Schnelligkeit der Technik. Wenn sie das Brett ordentlich tritt und so springt, wie neulich bei der U23-EM in Lahti, dann kann sie gewinnen. Für mich ist sie auf alle Fälle eine der Favoritinnen.