Als Neeraj Chopra in seinem zweiten Versuch den Speer in den Budapester Nachthimmel schleuderte, wusste er sofort Bescheid. Ohne die Flugkurve zu verfolgen, drehte sich der indische Volksheld um und streckte beide Arme nach oben.
Der Riese ist erwacht
Die Anzeigetafel gab ihm wenige Augenblicke später recht: 88,17 Meter weit flog sein Speer. Wie sich eine gute halbe Stunde später herausstellen sollte, reichte dies für seinen nächsten historischen Coup.
Zwei Jahre nach dem ersten Olympiagold eines Inders trug sich Chopra in Budapest nun auch bei einer Weltmeisterschaft in die Rekordbücher ein, nachdem er im Jahr zuvor noch die Silbermedaille gewonnen hatte.
Dabei ist Chopra nicht mehr der Alleinunterhalter, der er seit einigen Jahren im indischen Leichtathletik-Team war. Kishore Jena und D.P. Manu standen ebenfalls im Finale und reihten sich auf den Plätzen 5 und 6 ein.
Auch bei Indiens Frauen tut sich etwas
Auch dem deutschen Speerwerfer Julian Weber, der eine WM-Medaille anvisiert hatte und sie mit dem undankbaren vierten Platz verpasste, blieb die indische Dominanz nicht verborgen. „Da kommen immer mehr Inder. Die sind extrem stark mit Klaus Bartonietz (ihrem deutschen Trainer, Anm. d. Red.)“, zeigte sich Weber nach dem Wettkampf im Gespräch mit SPORT1 beeindruckt. „Die können befreit werfen, ohne Probleme“ - auch deshalb sei Chopra vor ihm gelandet.
Überhaupt war der Abschlussabend der Titelkämpfe für den asiatischen Subkontinent ein echtes Freudenfest. Zu den drei indischen Speerwerfern gesellte sich noch der Pakistani Arshad Naddem hinzu, der sich die Silbermedaille schnappte.
Parallel zur Speerwurfentscheidung wurde die Inderin Parul Chaudhary Neunte über 3000 Meter Hindernis, verbesserte den nationalen Rekord auf 9:15,31 Sekunden und unterbot damit auch die Olympia-Norm für Paris.
Ein solch erfolgreiches Auftreten indischer Leichtathleten wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Bis zu Chopras Sieg in Tokio war der Sportschütze Abhinav Bindra der einzige Inder, der bei Olympia eine Goldmedaille (2000 in Sydney) in einer Individualsportart gewonnen hatte.
Gut 20 Jahre später lässt sich konstatieren: Der Riese ist aus seinem Schlaf erwacht. Insgesamt umfasste das 27-köpfige indische WM-Kontingent 23 Männer und vier Frauen, während noch vor 20 Jahren nur eine Handvoll Athletinnen und Athleten am Start gewesen waren.
Indische Talente wurden durch Zufall entdeckt
Das riesige Volk mit über 1,4 Milliarden Einwohnern ist in vielen Sportarten zwar noch immer ein Außenseiter, aber die Bemühungen, Anschluss zu finden, werden – wie in der Leichtathletik - langsam sichtbar. Das größte Problem jedoch bleibt: Bis auf die Nationalsports Cricket und Feldhockey, und mit Abstrichen Fußball, findet man auch heutzutage im indischen Sport kaum professionelle Strukturen.
Dass in der Vergangenheit hin und wieder indische Leichtathleten zumindest in die Nähe in der Weltspitze gelangten, war nicht das Ergebnis von Nachwuchsförderungen, sondern schierer Zufall.
So soll der junge Soldat Paan Singh Tomar in den in der frühen 1950er Jahren einem Offizier aufgefallen sein, nachdem er wegen eines Streits mit seinem Ausbilder einige Extrarunden über den Paradeplatz laufen musste.
Es war der Startschuss einer Karriere, die Tomar sieben nationale Titel brachte. Sein Landesrekord im 3.000-Meter-Hindernislauf blieb ein ganzes Jahrzehnt ungebrochen.
Ein Deutscher steckt hinter Chopras Erfolg
Nicht zuletzt durch die Erfolge des Speerwerfers Chopra hat sich einiges im indischen Nachwuchssport getan. Mit über sechs Millionen Follower hat der Weltmeister bei Instagram eine beachtliche Reichweite, viele Kinder eifern ihrem Idol mittlerweile nach.
Dabei spielt mit Klaus Bartonietz auch ein Deutscher eine große Rolle, schließlich ist der Biomechaniker schon seit fünf Jahren Chopras Trainer. Mit Beharrlichkeit arbeitete Bartonietz an der Technik des 25-Jährigen, die dieser mittlerweile besser beherrscht als die gesammelte Weltelite.
„Es gibt ein Sprichwort eines amerikanischen Footballtrainers (Vince Lombardi, Anm. d. Red.), das besagt, dass man nicht nur durch Übung perfekt wird, sondern durch perfekte Übung perfekt wird“, sagte Bartonietz einmal. „Das ist mein Lieblingsspruch, wenn es um Training geht. Es geht also nicht nur darum, ‚zu werfen‘, man muss es gut machen.“
So wie Neeraj Chopra, der an diesem historischen Sonntag seinem Speer hinterher jubelte, als dieser noch durch die Budapester Nacht flog.