Budapest am Sonntagmittag, es läuft gerade der zweite Tag der Leichtathletik-WM. In den Katakomben des Stadions baut sich ein riesiger Pulk an Journalisten vor einer polnischen Sprinterin auf, die gerade ihren Vorlauf mit 11,32 Sekunden beendet und das Halbfinale verpasst hat.
Flucht vor der eigenen Vergangenheit
Das Ausscheiden in der ersten Runde erklärt nicht im Geringsten die mediale Aufmerksamkeit, die diese zierliche Frau mit den langen, dunkelblonden Haaren auf sich zieht. Es ist vielmehr ihre Lebensgeschichte, die an einem heißen Sommertag vor zwei Jahren eine spektakuläre Wendung nahm und nun in Budapest ein neues Kapitel aufschlägt.
Kristina Timanowskaja, so heißt die Sprinterin, war bei den Olympischen Spielen in Tokio noch für Belarus am Start. Nach einem Konflikt mit Sportfunktionären ihres Verbandes durfte sie nicht über 200 Meter antreten und sollte gegen ihren Willen in ihr Geburtsland zurückgebracht werden.
Am 1. August 2021 wurde sie in Tokio zum Flughafen Haneda gebracht, wo sie eine Maschine nach Istanbul zum Weiterflug nach Minsk besteigen sollte. Die damals 26-Jährige weigerte sich jedoch und wandte sich am Flughafen in einem dramatischen Appell an das IOC.
Japanische Polizei verhindert Timanowskajas Rückflug
Ihr Cheftrainer habe ihr erklärt, es habe einen „Befehl von oben“ gegeben, sie zu „entfernen“. Daraufhin griffen Freiwillige und Beamte der japanischen Polizei ein und verhinderten Timanowskajas Rückflug in das von Staatspräsident Alexander Lukaschenko autokratisch geführte Land.
Anschließend wandte sie sich an die polnische Botschaft, erhielt zunächst ein humanitäres Visum und ist mittlerweile im Besitz der polnischen Staatsbürgerschaft.
Weil der Weltverband World Athletics die obligatorische Sperre für internationale Meisterschaften bei einem Nationenwechsel in ihrem Fall deutlich verkürzte, ist sie nun bereits in Budapest startberechtigt.
Timanowskaja: „Erst Psychiatrie, dann Gefängnis“
Eine Rückkehr nach Belarus kommt für Timanowskaja indes nicht mehr in Frage. „Ich habe bei anderen belarussischen Athleten gesehen, was mir blühen würde, wenn ich zurückkehren würde“, erklärte sie im vergangenen Jahr der FAZ.
Und weiter: „Als das belarussische Fernsehen anfing, die Information zu verbreiten, dass man mich von den Spielen abgezogen habe, weil ich psychische Probleme habe, wusste ich, was mir bei einer Rückkehr drohen würde: erst Psychiatrie, dann Gefängnis. Mit solchen harten Bestrafungen will man andere Athleten abschrecken, in der Öffentlichkeit Kritik zu üben.“
Nun steht sie also an diesem heißen Augusttag vor dutzenden Mikrofonen, die ihr vor das Gesicht gehalten werden und erklärt, wie sich dieser erste Auftritt im neuen Trikot für sie angefühlt hat.
Etwas holprig sei es gewesen, auch weil sie zuvor keine Wettkämpfe, wie die Diamond-League-Rennen, bestreiten durfte. Insgesamt freue sie sich aber, dass sie nun ihr Debüt gegeben habe, wobei sie sich über 200 Meter mehr Chancen gibt.
„Ich werde mein Bestes geben, dann werden wir sehen. Die 200 Meter liegen wir mehr, weil man da kleinere Fehler am Start auf den letzten 150 Metren ausbügeln kann. Diese Zeit hat man über 100 Meter nicht“, sagt sie.
„Ich will nicht darüber sprechen, sorry!“
Timanowskaja ist gut drauf, sie lächelt freundlich und versucht in einem ordentlichen Englisch, die sportlichen Fragen abzuarbeiten.
Als SPORT1 sie allerdings fragt, ob sie noch Kontakte zu ihren früheren Kolleginnen aus Belarus, die wegen des Ukraine-Krieges für die WM in Budapest gesperrt sind, habe, verfinstert sich ihre Miene schlagartig.
„Ich will nicht darüber sprechen, sorry!“, erwidert sie in einem barschen Ton. „Das möchte ich nicht. Ich habe keinen Kontakt zu ihnen, okay?“
In diesem Moment wird ersichtlich, dass Kristina Timanowskaja die ersten 25 Jahre ihres Lebens am liebsten ausradieren möchte, zumindest in der Öffentlichkeit. Am liebsten würde sie buchstäblich vor ihrer Vergangenheit wegrennen
Für sie wäre es daher wohl am besten, wenn ihre früheren Kolleginnen aus Belarus erst einmal gesperrt blieben - und sie diese Vergangenheit im kommenden Jahr bei den Olympischen Spielen in Paris nicht einholt.