Als Lea Meyer am zweiten Tag der Leichtathletik-WM kopfüber in den Wassergraben stürzte, hätte man schon eine Vorahnung haben können.
WM-Debakel: Stars fordern Konsequenzen
Eine Woche später, zum Ende der Wettkämpfe, war klar, dass kein Bild das DLV-Desaster von Eugene besser symbolisierte als der kapitale Sturz der 24-Jährigen. (BERICHT: „Rückgrat ganz?“: Deutsches Drama)
Dabei tut man Meyer im Grunde genommen Unrecht, sie als Sinnbild der darbenden deutschen Leichtathletik zu stigmatisieren, schließlich unterbot sie trotz ihres Missgeschickes die Zeit, mit der sie einige Wochen zuvor in Berlin Deutsche Meisterin wurde.
Während sie zum Saisonhöhepunkt in Bestform angereist war, konnten das knapp die Hälfte aller Athleten nicht von sich behaupten, wie DLV-Cheftrainerin Annett Stein in ihrem Fazit betrübt feststellte.
Leichtathletik-WM: Johannes Vetter verteidigt Athleten
Allerdings treffe die Sportler die geringste Schuld an der Misere, findet Johannes Vetter, Deutschlands bester Speerwerfer und einer der prominenten Ausfälle im deutschen WM-Team. (NEWS: Alles zur Leichtathletik)
„Den Athleten muss eine reelle Chance gegeben werden, wenn sie sich qualifizieren und nominiert werden“, sagt Vetter bei SPORT1. „Sie brennen darauf, bei einer WM zu starten. Etwaige Misserfolge kann man als Erfahrungsschatz mitnehmen.“ (WM-Debakel! Vetter wird deutlich)
Auch für Heike Drechsler, unter anderem zweimalige Olympiasiegerin im Weitsprung, liegt die Schuld weder bei den Athleten noch bei den Trainern. „Sie geben ihr Bestes, es schaffen aber nur wenige in die Weltspitze“, sagt sie bei SPORT1.
Die Herangehensweise stimme allerdings oft nicht – da sind sich Drechsler („Man gibt sich mit dem europäischen Vergleich zufrieden, oder es reicht sogar ein deutscher Meistertitel“) und Vetter einig.
Falsche Gewichtung: EM wichtiger als WM?
So kann der 29-Jährige die Gewichtung vieler seiner Kollegen und des DLV nicht nachvollziehen. „Der Leichtathletik-Verband wird sich auf die Europameisterschaft freuen, weil dort unsere Medaillenchancen besser ausfallen. Aber wollen wir uns an einer EM messen oder an einer Weltmeisterschaft? Ich denke da eher an Zweiteres.“
Die Europameisterschaft sei eher ‚nice to have‘, sagt der Weltmeister von 2017. „Ich will das gar nicht runterspielen, aber dass es dort einfacher ist, Medaillen zu holen, ist auch klar.“
Mindestens zehn Mal Edelmetall wolle man in der bayerischen Landeshauptstadt holen, kündigte DLV-Präsident Jürgen Kessing bereits an, noch bevor er sich mit seinen Verbandskollegen in die „schonungslose Analyse“ (Gonschinska) des WM-Debakels begab.
Misserfolg zeichnete sich ab
Dass die deutsche Mannschaft in Eugene derart Schiffbruch erleiden würde, kam jedoch keineswegs aus heiterem Himmel, schließlich zeigte die Tendenz in den vergangenen Titelkämpfen bereits nach unten. Bei der WM in Doha profitierte der DLV noch von Niklas Kauls Überraschungssieg, sonst hätte auch 2019 Malaika Mihambo die einzige deutsche Goldmedaille gewonnen. (BERICHT: Unter Schmerzen! So siegte Mihambo)
„Es ist leider Realität, dass eine Breite von unten nicht da ist“, blickt Drechsler besorgt auf den fehlenden deutschen Leichtathletik-Nachwuchs. „Es wurde seit Jahren nicht an Strukturen gearbeitet.“
Doch dies scheint nur ein Teil des Problems zu sein, schließlich ist der DLV von den Olympischen Sportverbänden noch am privilegiertesten. „Die Leistungen bei der WM kann ich mir anhand der Fördersummen nicht erklären“, sagt Vetter.
„Wir müssten eine große Summe an finanziellem Budget zur Verfügung haben, aber wofür geben wir diese Summen aus? Wir wissen alle, dass das Ehrenamt in Deutschland, speziell in den Vereinen, schlecht aufgestellt ist. Es gibt kaum noch hauptamtliche Trainerstellen in Vereinen. Außerdem gibt es einige deutsche Trainer, die lieber ins Ausland gehen, weil sie dort besser bezahlt oder womöglich auch besser behandelt werden.“
Was also tun, um den negativen Trend, ähnlich wie es dem deutschen Schwimmverband zuletzt gelang, zu stoppen? Wie lassen sich verkrustete Strukturen möglichst schnell auflösen und in eine zeitgemäße und erfolgreichere Richtung überführen?
Nicht krampfhaft an zentralen Stützpunkten festhalten
Einen strikten Paradigmenwechsel fordert Gertrud Schäfer. Die frühere Trainerin der zweimaligen Siebenkampf-Weltmeisterin Sabine Braun führt im Gespräch mit SPORT1 eine ganze Liste mit Verbesserungsvorschlägen auf, die unter anderem auf die verschiedenen Trainingsbereiche abzielen.
„Die Leichtathletik ist eine Individualsportart und sollte auch die singulären Bedürfnisse in den Fokus nehmen, wobei die Steuerung vor Ort bei den dortigen Trainern liegen sollte“, fordert sie etwa. Wenn also ein Athlet in der Peripherie eine gute Trainerbetreuung genieße, bestehe kein Grund, diesen an einen zentralen Stützpunkt abzuziehen.
„Der DLV hat bei der WM 2019 in Doha beide Goldmedaillen durch nebenamtliche Trainerinnen und Trainer (Ralf Weber und die Familie Kaul, Anm. d. Red.) erzielt, nicht durch die hauptberuflichen.“ Es komme vorrangig auf die Trainerqualität an – und nicht darauf, ob jemand einen Vertrag beim DLV habe.
Problem in trägen Verbandsstrukturen
Einer, der über neun Jahre lang beim DLV angestellt war, ist Thomas Dreißigacker. Der heute 34-Jährige war unter anderem Leitender Bundestrainer Lauf und Stützpunkttrainer in Leipzig. Seit Januar 2022 betreut er für den Schweizer Sportartikelhersteller ON ein Profiteam mit jungen Spitzenläuferinnen und -läufern, inklusive dem derzeit besten deutschen Mittelstreckler Robert Farken.
Dreißigacker kennt also beide Seiten – die Arbeit innerhalb eines gewachsenen Verbandes und die Arbeit in einem jungen Unternehmen. Seine Erfahrungen im DLV sind ambivalent, wie er bei SPORT1 schildert.
„Der größte Unterschied ist, dass die Entscheidungswege jetzt kürzer sind. Ich als Trainer treffe in der Regel alle Entscheidungen, welche den Trainingsprozess, die Wettkampfplanung und die Trainingslagerplanung betreffen. Im Verband dauern die Entscheidungsfindungen häufig sehr lang.“
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Er könne auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen auch bei kurzfristigen Änderungen der Planungen zugreifen und diese umsetzen, erklärt Dreißigacker. „Der Hochleistungssport ist nun mal sehr schnelllebig, schnelles Reagieren auf neue Situationen ist damit unbedingt erforderlich. Ich kann mich als Trainer voll und ganz auf meine Tätigkeit als Trainer und die Entwicklung meiner Athlet:innen konzentrieren.“
Dabei will Dreißigacker gar nicht verhehlen, dass der Deutsche Leichtathletik-Verband in den letzten zehn Jahren viele professionelle Strukturen geschaffen habe, „sie müssen aber konsequent genutzt werden. Damit meine ich vor allem auch die Zusammenarbeit mit der Trainingswissenschaft.“
Auch Vertragssituationen müssen hinterfragt werden
Damit rennt er bei Gertrud Schäfer offene Türen ein. Die 78-Jährige fordert, die Forschungsarbeiten deutscher Sport-Unis intensiver zu nutzen, den Prophylaxe-Bereich zu intensivieren und die Biomechanik an die Fortschritte anzupassen.
Trainer beim DLV hätten zudem häufig keine Planungssicherheit, sagt Dreißigacker. „In der Regel erhalten die bundesfinanzierten Trainer einen Arbeitsvertrag für einen Olympiazyklus und werden mit einer möglichen Weiterbeschäftigung oftmals sehr lange im Dunkeln gelassen.“
Es sei keine Ausnahme, „dass bis Anfang Dezember noch keine Gespräche für eine mögliche Weiterbeschäftigung erfolgt sind. Unbefristete Arbeitsverträge würden zu mehr Sicherheit bei den Trainern führen.“
Laut Dreißigacker müssten die Aufgabenfelder der Trainer besser geschärft werden. „Oftmals sind Bundestrainer auch Heimtrainer von Topathleten, eigentlich ein Interessenskonflikt, da man als Bundestrainer die Neutralität zwischen den Kaderathleten wahren muss und als persönlicher Trainer seine eigenen Athleten maximal unterstützen möchte.“
Eine professionellere Trainerausbildung sei für eine erfolgreichere Zukunft in der deutschen Leichtathletik entscheidend. „Es muss dringend eine Traineroffensive geben, um langfristig wieder mit mehr Athleten international konkurrenzfähig zu sein. Aus meiner Sicht ist die Trainerausbildung seit Jahren auf einem zu geringen Level.“
Internationale Trainer? Umdenken ist gefordert
Man habe zwar gute Trainer in Deutschland, „aber es mangelt an jungen Trainern und es gibt immer weniger Trainer mit sportwissenschaftlichem Studium. Hier muss mehr die universitäre Sportwissenschaft und angewandte Trainingswissenschaft einbezogen werden. Gute Trainer führen mittel- und langfristig zu mehr Erfolg.“
Der DLV dürfe auch nicht davor zurückschrecken, Coaches aus anderen Ländern einzustellen, fordert Schäfer. „Hervorragende ausländische Trainer sollten nach Bedarf eingesetzt werden, wobei die Bezahlung unter anderem über Sponsoring erfolgen könnte.“
Die Tatsache, dass beim DLV Disziplinschwerpunkte auf bestimmte Orte ausgerichtet sind, hält Schäfer „für vollkommen falsch“. So sei etwa Helge Zöllkau in Leverkusen verstärkt im Hammerwurfbereich tätig. „Er war aber sehr stark in der Speerwurfbetreuung. Man sollte niemals von oben diktieren.“
Ratschläge von „kleineren“ Nationen annehmen
Um etwa die frühere deutsche Paradestrecke über 400 Meter wieder auf Vordermann zu bringen, schlägt Schäfer ganz konkret eine Task-Force mit dem früheren Weltklasseläufer Harald Schmid und Jürgen Krempin (Ex-Trainer von Europameister Ingo Schultz) vor. Und: „Die Trainer sollten die 400-Meter-Metabolik bis ins Detail kennen.“
Dabei dürfe auch nicht davor zurückgeschreckt werden, Rat von kleineren Nationen einzuholen, die mit geringeren Mitteln mehr herausholen. „Die Niederlande, Belgien oder die Schweiz zeigen uns, wie es gehen kann“, sagt auch Vetter. „Dort wird aus weniger ‚Breite‘ mehr ‚Spitze‘ gefördert.“
Simon Ehammer, WM-Dritter im Weitsprung, weiß, wie es den Eidgenossen gelang, mehr Kinder auf die Laufbahn zu locken. (Wunder-Springer Ehammer mit verblüffenden Aussagen)
„Viel bewegt hat mit Sicherheit der Kids Cup, ein Dreikampf für Kinder der ganzen Schweiz, bei dem das Finale im Letzigrundstadion am Wochenende nach dem Diamond-League-Meeting stattfindet. Das gibt ihnen ein Feeling von Wichtigkeit und ist ein Ansporn für das Training“, erklärt der Zehnkämpfer bei SPORT1.
Vorbild Schweiz?
Der Erfolg setzte 2014 ein, als man zum ersten Mal gesehen habe, dass die Schweiz international erfolgreich sein kann. „Fortan haben die Athleten immer mehr an sich geglaubt und sind dadurch in einen Flow gekommen.“
Der Erfolg der Eidgenossen bei der WM kann sich sehen lassen, schließlich brachten sie in Eugene sieben Athleten in die Top-8-Ränge – und damit ebenso viele wie das zehn Mal bevölkerungsreichere Deutschland. Ein Blick nach Südwesten könnte sich also lohnen.
Und so muss sich der schwer gebeutelte DLV nach seinem kapitalen WM-Bauchklatscher erst einmal schütteln und möglichst schnell verlorenen Boden gutmachen. Auch wenn es fürs Finale nicht mehr reichte: Lea Meyer könnte ein Vorbild sein.