Noch nie in der Geschichte von Leichtathletik-Weltmeisterschaften standen Titelkämpfe so sehr in der Kritik wie die aktuellen von Doha. Kaum Zuschauer, miese Stimmung und der späte Zeitpunkt, der die Olympia-Vorbereitung stört, machen die WM bereits jetzt zur Farce.
DLV-Arzt über Hitze und Risiken
Das größte Thema bleibt aber die große Hitze, die die Marathonläufer und Geher an ihre Grenzen bringt - und darüber hinaus.
Vor den abschließenden Wettkämpfen der Männer über 20 Kilometer Gehen und im Marathonlauf fragte SPORT1 beim leitenden DLV-Mannschaftsarzt Dr. Andrew Lichtenthal nach, ob eine Leichtathletik-WM unter diesen Voraussetzungen überhaupt zu verantworten ist.
SPORT1: Dr. Lichtenthal, wenn man sich die Bilder der ersten Wettkampftage ansieht und mit den Athleten spricht, kann man daraus schließen, dass die Weltmeisterschaft auf dem Rücken der Geher und Marathonläufer ausgetragen wird?
Dr. Andrew Lichtenthal: Sie haben definitiv sehr schwierige Bedingungen. Unser Team ist zum Glück sehr gut vorbereitet und wurde perfekt auf die Bedingungen eingestellt. Seit Ende letzten Jahres beschäftigte sich das medizinische Kompetenzteam des DLV sowie medizinische Experten der Berliner Charité mit den besonderen Bedingungen. Aufgrund des Hitzemanagements haben unsere Athletinnen und Athleten die besonderen klimatischen Verhältnisse sehr gut weggesteckt.
SPORT1: Kann man Marathonläufe und die Wettbewerbe im Gehen bei solchen Temperaturen ohne schlechtes Gewissen verantworten?
Dr. Lichtenthal: Das ist schwierig. Ich denke, man muss die Kriterien abwägen, wann so ein Rennen abgesagt wird. Das bestimmen aber nicht wir. Die medizinische Abteilung muss intensiv mit an Bord genommen werden. Ich habe mich lange mit Dr. Stephane Bermon, Leiter der medizinischen Abteilung der IAAF, unterhalten. Natürlich hat er keinen leichten Job. Das ist ein sehr guter Mediziner und er hat Kriterien festgelegt. Bis zum Schluss hat man überlegt, ob man Laufen kann oder nicht. Stephane ist jemand, der nüchtern analysiert und wenn es sein muss Rennen absagt.
SPORT1: Sind auch deshalb keine deutschen Starter bei den Marathonrennen gemeldet oder wären auch bei anderen Bedingungen keine deutschen Teilnehmer am Start gewesen?
Dr. Lichtenthal: Ich habe mit unseren Marathonläufern nicht gesprochen. Es gibt Athleten, die es ohne Probleme wegstecken, andere, die mehrere Wochen im Training eingeschränkt sind. Und letztlich muss man sich erst einmal über die Nominierungsrichtlinien qualifizieren.
Noch zwei Wettbewerbe außerhalb des gekühlten Stadions
SPORT1: Jetzt stehen noch zwei Wettkämpfe außerhalb des gekühlten Stadions an. Die 20 Kilometer Gehen und der Marathon der Männer. Wie werden dort die Bedingungen sein? Wird es ein bisschen kühler oder muss man die Befürchtung haben, dass es wieder Bilder von kollabierenden Athleten gibt?
Dr. Lichtenthal: Mein Team und ich werden die 20 Kilometer Gehen betreuen, denn es sind drei Sportler von uns mit dabei. Gestern und vorgestern Abend waren die Bedingungen deutlich besser. Es war weniger schwül und die Temperatur ist gefallen. Ich bin jetzt seit zwei Wochen hier und es kann sein, dass ich mich inzwischen an die Bedingungen gewöhnt habe. Wir machen es bei den Gehern genauso, wie bei den anderen Rennen. Wir sind an der Strecke und werden die Sportler optimal betreuen.
SPORT1: Hat man bei der IAAF schon die Hitzekapseln ausgewertet?
Dr. Lichtenthal: Das ist zu früh. Das geht nicht so schnell. Ich war an der Geherstrecke und habe beobachtet, wie alles analysiert wird. Die Athleten werden vor dem Rennen gewogen und mit einer Wärmebildkamera fotografiert. Nach dem Rennen genauso. Die Ergebnisse brauchen ein paar Monate, bis die Analyse abgeschlossen ist. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse, weil ich wissen möchte, wie welcher Athletentyp auf die unterschiedlichen Bedingungen reagiert.
Daten auch für Tokio 2020 wichtig
SPORT1: Das ist dann auch schon für Tokio wichtig?
Dr. Lichtenthal: Absolut. Tokio hat schon viel Erfahrung mit dem Marathon und die starten schon um 6:00 Uhr am Morgen, da dort die besten Bedingungen herrschen. In Tokio ist das Stadion nicht gekühlt und deswegen sind die Ergebnisse enorm wichtig, weil dann auch die Athleten im Stadion mehr mit der Hitze zu kämpfen haben. Wir können es schon als Vorbereitung für Tokio sehen.
SPORT1: Werden die Athleten dort schon früher anreisen, um sich zu adaptieren?
Dr. Lichtenthal: Auf alle Fälle. Ich denke, dass wir in der Nähe bei ähnlichen klimatischen Verhältnissen trainieren werden.
Ärzte müssen Athleten auch vor sich selbst schützen
SPORT1: Ab welcher Körpertemperatur wird es für einen Sportler gefährlich?
Dr. Lichtenthal: Wir wissen nicht ganz sicher, ab welcher Körperkerntemperatur eine optimale Performance des Athleten stattfinden kann. Rein biochemisch-pathophysiologisch bekommt der Körper ab 42 Grad und höher Probleme, aufgrund der Tatsache, dass es hierbei zu Proteindenaturierung kommen kann. Unser Körper hat hierzu Mechanismen, um dies zu verhindern. Athleten können auch mal mit einer Körperkern-Temperatur von 40 Grad ihre Leistung bringen. Ideale Temperaturen für eine gute Leistung sind circa 38,5 bis 39 Grad.
SPORT1: Gibt es eine Fürsorgepflicht, wenn ein Sportler sichtlich Probleme hat? Kann man ihn notfalls gegen seinen Willen aus dem Rennen nehmen?
Dr. Lichtenthal: Das ist unsere Aufgabe und eigentlich sind die Ärzteteams insbesondere für solche Problemstellungen vor Ort. Von ärztlich-medizinischer Seite müssen wir viel organisieren, aber in dem Moment, in dem ein Sportler oder Teammitglied aufgrund gesundheitlicher Komplikationen erkennbar nicht mehr bewusst entscheiden kann, ob das was er macht korrekt ist, müssen wir als medizinische Abteilung handeln. Ich hätte auch kein Problem einen Geher aus dem Rennen zu nehmen, wenn er neurologisch und kreislauftechnisch auffällig ist.
SPORT1: Im Stadion herrschen dank der Klimaanlage nahezu ideale Temperaturen. Allerdings ist der Wechsel zwischen der Hitze außerhalb und den kühleren Innentemperaturen gefährlich. Was haben Sie den Athleten geraten?
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Dr. Lichtenthal: Ganz einfache Dinge wie Wechselkleidung, Kälte- und Wärmefolien. Falls sie etwas länger im T-Shirt oder Trikot unterwegs sind und frieren, können sie sich diese überziehen. Sie haben ihre Pullover und wirklich mannigfaltige Kleidungsstücke dabei. Wir haben außerdem geraten, dass die Sportler ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen. In der Regel im Verhältnis 50% Wasser und 50% Elektrolytlösung.
Klimaanlage kein großes Problem
SPORT1: Hat es im deutschen Team schon eine Erkältung gegeben?
Dr. Lichtenthal: Sehr wenige. Zwei Erkältungen gab es. Hier war aber die Klimaanlage im Flugzeug eher der Auslöser, denn dort kann man tatsächlich alle Klimazonen innerhalb kürzester Zeit erleben. Deswegen empfehlen wir, dass die Sportler im Flugzeug eine Jacke mitnehmen. Alle Athleten haben eine Nasensalbe und eine Nasenspülung als Schutz bekommen. Zwei richtige Erkältungen gab es und ein paar Klagen über Halsschmerzen. Wir haben aber viel weniger Erkältungen erlebt, als wir es erwartet hätten. Ich hoffe, dass das etwas mit unserer guten Vorarbeit zu tun hat.
SPORT1: Abseits der klimatischen Bedingungen: Was sagen Sie zur Diskussion um Konstanze Klosterhalfen? Ist es gerechtfertigt, dass sie so massiv in der Kritik steht, obwohl das, wofür Salazar gesperrt wurde, weit vor ihrer Zeit in den USA liegt?
Dr. Lichtenthal: Ich möchte dazu nicht viel sagen. Sie kennen unser offizielles Statement. Es ist aber das normalste der Welt, dass dies in einem Gesamtkontext gesehen und diskutiert wird. Konstanze und alle anderen unserer Athletinnen und Athleten wurden und werden mehrfach im Jahr kontrolliert und nichts wurde bisher beanstandet.