Ein Mann, der von den Nazis gezwungen wird, sich als Frau auszugeben – und mit einem Weltrekord und einem EM-Titel in der Frauen-Leichtathletik die internationale Elite düpiert: Es klingt wie der Plot eines schlechten C-Movies, bis heute halten ihn allerdings viele für eine wahre Story.
Die Wahrheit hinter der angeblichen Nazi-Verschwörung ist fast schwerer zu glauben als der Mythos
Die NS-Sportheldin, die ein Mann war
Tatsächlich ist die Vita des heute vor 17 Jahren verstorbenen Heinrich Ratjen, der 1938 als Dora Ratjen Europameisterin im Hochsprung wurde, eine der speziellsten Geschichten der Sport- und der NS-Historie. Sie ist in Wahrheit allerdings um einiges komplizierter und sensibler.
Heinrich Ratjen wuchs als Mädchen auf
Ratjen wurde am 20. November 1918 im niedersächsischen Dorf Erichshof geboren, heute Teil der Stadt Weyhe bei Diepholz. Gesicherte Erkenntnisse zu seinem Heranwachsen sind spärlich und beruhen auf Rekonstruktionen aus späteren Ermittlungsakten des NS-Staats.
Gewiss scheint, dass Ratjen mit äußerlich uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kam. Wie sehr dieser biologische Umstand eine Dorffamilie kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs überfordert haben muss, ist erahnbar.
In Ratjens Fall wurde nach Angaben des Vaters der Hebamme vertraut, die Ratjen als Mädchen einordnete: Er wurde entsprechend erzogen und gekleidet, ging auf eine Mädchenschule, ergriff den als Frauenjob erachteten Beruf als Packerin in einer Tabakfabrik.
„Von meinem elften oder zwölften Lebensjahr an kam mir schon das Bewusstsein, dass ich kein Mädchen, sondern ein Mann war“, berichtete Ratjen später der Polizei: „An meine Eltern habe ich aber niemals die Frage gestellt, warum ich als Mann Frauenkleider tragen muss.“
Platz 4 bei Olympia 1936 in Berlin
Die größeren Verstrickungen begannen, als Ratjen dem Sportverein Komet Bremen beitrat und sich dort begann, im Hochsprung auszuzeichnen – und 1936 zum ersten Mal Deutsche Meisterin wurde (zwei Titelverteidigungen folgten).
Ratjen wurde Teil des deutschen Kaders für Olympia 1936 in Berlin und verpasste mit einer Höhe von 1,58 Meter nur knapp eine Medaille: Hinter der Ungarin Ibolya Csak, der Britin Dorothy Odom und der deutschen Teamkollegin Elfriede Kaun.
Erwähnenswert in dem Zusammenhang: Der sportlich ebenfalls qualifizierten Teamkollegin Gretel Bergmann wurde vom NS-Sportregime das Startrecht verweigert - die später in die USA geflüchtete Athletin war Jüdin. Der Vorgang wurde vor der Öffentlichkeit verheimlicht, um den damals noch zur Schau gestellten Schein der Weltoffenheit zu wahren.
Nach EM-Gold flog der Fall Dora Ratjen auf
Ratjen tauchte ironischerweise auch in Leni Riefenstahls damals auch international vielbeachteter und preisgekrönter Propaganda-Doku „Olympia“ auf. Größere Kreise zog ihr Fall allerdings erst, als der Erfolg zwei Jahre nach Olympia noch größer wurde: Im September 1938 holte Ratjen vor Olympiasiegerin Csak Gold bei der Leichtathletik-EM in Wien und stellte dabei mit 1,70 Metern einen neuen Weltrekord auf.
Kurz darauf flog Ratjens Intergeschlechtlichkeit durch die Untersuchung eines Magdeburger Polizeiarztes auf: Er stellte fest, dass Ratjen männliche Merkmale hatte, die durch einen Narbenstrang anatomisch von der Norm abwichen.
Ratjen wurde das EM-Gold und der Weltrekord nachträglich aberkannt, sie erhielt vom DLV-Vorläufer, dem Reichsfachamt Leichtathletik, ein Startverbot für kommende Wettkämpfe – nach außen hin begründet mit einem „Verstoß gegen das Amateurstatut“.
Auch in der gleichgeschalteten Presse wurde der Fall Ratjen totgeschwiegen, es erging eine offizielle Anweisung, dass über Dora Ratjen über eine dünne Mitteilung eines Ausschlusses aus medizinischen Gründen „nichts mehr gebracht werden soll“.
Strafrechtliche Ermittlungen eingestellt
Hitlers Herrenrassen-Staat war der Skandal um Dora Ratjen selbstredend peinlich, die Behörden verfügten - gegen den Widerstand von Ratjens Familie - dass Ratjens eingetragenes Geschlecht und der Name geändert werden musste, über eine Versetzung vom Reichsarbeitsdienst wurde der nun Heinrich genannte Ratjen auch räumlich von seinen Angehörigen getrennt.
Während viele andere Transpersonen - wie auch Homosexuelle - im NS-Staat als Opfer verfolgt, eingesperrt und teils ermordet wurden, kam Heinrich Ratjen ansonsten unbehelligt durch die Zeit.
Eine strafrechtliche Ermittlung der Staatsanwaltschaft Magdeburg gegen Ratjen wurde eingestellt, weil sie keine kriminelle Absicht und keinen Grund für Repressalien sah („Der Tatbestand des Betruges entfällt, weil die Absicht, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, nicht festgestellt werden kann“). Die damaligen Akten legen nahe, dass Ratjen die Klärung des Falls als Befreiung aus einem persönlichen Dilemma empfand.
Nach eigenen Angaben kämpfte Ratjen sogar noch als Soldat auf deutscher Seite im Krieg, danach übernahm er die Gastwirtschaft seiner Eltern, lebte bis 2008, ehe er am 22. April 90-jährig starb.
Verschwörungsmythos entwickelt Eigenleben
Verschwörungstheorien und falsche Vorstellungen um den Fall Ratjen halten sich bis heute, in besonderem Maße wurden sie geschürt durch einen Bericht des amerikanischen Time Magazine aus dem Jahr 1966.
Die renommierte Zeitschrift erzählte Ratjens Geschichte als vom NS-Staat orchestriertes Schurkenstück: „Neunzehn Jahre später tauchte Dora als Hermann [sic!] auf, ein Kellner in Bremen, der tränenreich gestand, dass er von den Nazis gezwungen wurde, sich als Frau auszugeben‚ für den Ruhm und die Ehre Deutschlands.“
Ob die Autoren je mit Ratjen gesprochen oder woher ihre Informationen sonst kamen, ist unklar. Der Verschwörungsmythos, für den es in der tatsächlichen Quellenlage keinen Anhaltspunkt gibt, entwickelte durch den Bericht jedoch ein Eigenleben.
Andere Medien, Buchautoren und auch Sportlerinnen wie die ehemalige sportliche Rivalin Bergmann beriefen sich auf den Time-Bericht und reproduzierten die Geschichte. Auch in dem deutschen Film „Berlin 36“ über die reale antisemitische Verschwörung gegen Bergmann (gespielt von Karoline Herfurth) kommt die Figur eines männlichen Konkurrenten vor, der sich als Frau tarnt (gespielt vom auch aus „Babylon Berlin“ bekannten Sebastian Urzendowsky).
Die wahre Geschichte von Dora bzw. Heinrich Ratjen lief nach allem, was man weiß, anders. Für die bis heute anhaltende Schwierigkeit, angemessen mit der komplexen und sensiblen Materie Intergeschlechtlichkeit im Sport und anderswo umzugehen und davon zu erzählen, ist sie allerdings ein anschauliches und erstaunlich aktuell anmutendes Beispiel.