Es war eines der tragischsten Ereignisse des an Tragödien reichen 20. Jahrhunderts.
Ein Gold-Held mit unglaublicher Vita
Beim Untergang der Wilhelm Gustloff, einem im Zweiten Weltkrieg als Truppentransporter verwendeten Kreuzfahrtschiff aus der NS-Zeit, starben am 30. Januar 1945 mindestens 4000, womöglich über 9000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten. Es war eine der schlimmsten, vielleicht die schlimmste Katastrophe der modernen Seefahrt, mit mindestens mehr als doppelt so vielen Todesopfern wie beim Untergang der Titanic (1495 Tote).
Im kollektiven Gedächtnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft tief verankert: Sie spielt eine Schlüsselrolle in Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“, wurde vielfach verfilmt, zuletzt 2008 von Joseph Vilsmaier mit Kai Wiesinger, Heiner Lauterbach und Michael Mendl.
Unter den Überlebenden des realen Desasters 63 Jahre vorher war ein kleiner Junge, der später deutsche Sportgeschichte schreiben sollte.
Kannenberg überlebte den Untergang der Wilhelm Gustloff
Bernd Kannenberg, geboren am 20. August 1942 im damaligen Königsberg – dem heutigen Kaliningrad in Russland – war an diesem Tag mit seiner Großmutter und seiner Cousine auf der Flucht aus der Heimatregion Ostpreußen.
Durch den Vormarsch der Roten Armee war das Gebiet vom Rest Deutschlands abgeschnitten. Die Gustloff wurde eingesetzt, um rund 10.000 Menschen – etwa 1500 Soldaten, über 8000 Zivilisten – zu evakuieren.
Bei der überstürzten und chaotischen Fahrt geriet das Schiff vor der Küste Pommerns ins Visier eines sowjetischen U-Boots, das das Schiff durch Torpedobeschuss versenkte. Kannenbergs Großmutter starb, die Kinder überlebten.
Nachdem sich Kannenbergs Familie zunächst in Ostdeutschland niederließ, zog es sie 1955 vor dem Mauerbau über Berlin von der DDR in die BRD - wo Kannenberg ein Weltklasse-Leichtathlet wurde.
Goldener Sonntag bei Olympia 1972 in München
Im fortgeschrittenen Sportleralter von 27 Jahren wurde der Berufssoldat und begeisterte Ausdauerläufer 1969 bei einem Militärmarsch als Geher entdeckt. Innerhalb weniger Jahre war er über die 50-Kilometer-Distanz der oft zu Unrecht belächelten Nischendisziplin der Beste der Welt, unterbot im Mai 1972 den damals gültigen Weltrekord um sage und schreibe acht Minuten.
Am 3. September desselben Jahres folgte dann Kannenbergs Karriere-Höhepunkt: Er siegte bei Olympia in München nach einem fesselnden Rennen unter dem Jubel von rund 100.000 Fans an der Wegstrecke, wurde in seiner Disziplin zum ersten und einzigen Gold-Gewinner der Bundesrepublik (1968 und 1980 siegten die DDR-Geher Christoph Höhne und Hartwig Gauder).
Es war der berühmte „Goldene Sonntag“ der deutschen Leichtathletik, an dem auch 800-Meter-Läuferin Hildegard Falck und die kürzlich verstorbene Speerwurf-Legende Klaus Wolfermann ganz oben auf dem Podium standen.
Traurige Ironie: Kannenbergs sportliche Sternstunde wurde zwei Tage später von einem weiteren tragischen Ereignis von weltgeschichtlicher Tragweite überschattet: dem blutigen Terroranschlag palästinensischer Extremisten auf das israelische Olympiateam mit elf Todesopfern.
Körperliche Probleme machten Kannenberg zu schaffen
Kannenberg schaffte mit EM-Silber 1974 in Rom auch über die 20 Kilometer einen Meilenstein. Über dieselbe Distanz trat er 1976 auch bei Olympia in Montréal an, musste aufgrund körperlicher Probleme aber vorzeitig aufgeben.
Kannenberg hörte 1978 auf, chronische Leisten- und Hüftprobleme zwangen ihn danach auch dazu, seinen späteren Posten als Bundestrainer aufzugeben.
Die größere Öffentlichkeit suchte Kannenberg in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr. Sein Überleben der Gustloff-Katastrophe erfuhr auch erst posthum größere Aufmerksamkeit, als seine Familie die Episode nach Kannenbergs Tod am 13. Januar 2021 - heute vor vier Jahren - erwähnte.
„Sport war immer ein zentraler Bestandteil im Leben von Bernd Kannenberg“, skizzierte Stiefsohn Guido Schröder das Leben des damals schon eher vergessenen Olympia-Helden mit der bewegten Lebensgeschichte: „Erst in den letzten Jahren war er krankheitsbedingt gezwungen, auf das Training mit dem Rennrad und die vielen langen Spaziergänge mit seinem Hund zu verzichten.“