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Die Gründe für Italiens Goldrausch

Wie sind die imposanten Erfolge der italienischen Gastgeber bei der Leichtathletik-EM zu bewerten? Im Gespräch mit zwei einheimischen Journalisten erfährt SPORT1, dass viel mehr dahinter steckt als nur der Heimvorteil.
Die Leichtathletik-Europameisterschaft 2024 in Rom ist in vollem Gange. Vom 7. Juni duellieren sich bis zum 12. Juni die besten Athleten und Athletinnen Europas um Medaillen.
Wie sind die imposanten Erfolge der italienischen Gastgeber bei der Leichtathletik-EM zu bewerten? Im Gespräch mit zwei einheimischen Journalisten erfährt SPORT1, dass viel mehr dahinter steckt als nur der Heimvorteil.

Die Nacht war schon über Rom hereingebrochen, als die einheimischen Zuschauer am Ende des zweiten Tages der Leichtathletik-EM beseelt das Olympiastadion zu den Tönen der italienischen Nationalhymne verließen.

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Zum Abschluss eines unvergesslichen Abends mit sechs italienischen Medaillen stimmten viele Fans in die Melodie der „Fratelli d‘Italia“ (Brüder Italiens) ein und bejubelten den Kugelstoßer Leonardo Fabbri, dem gerade bei der Siegerehrung vor der Arena die Goldmedaille um den Hals gehängt wurde.

Die Kulisse mit marmorierten Statuen allerorten ist atemberaubend und gespenstisch zugleich: Keine 200 Meter von der aufgebauten Tribüne entfernt prangt ein riesiger weißer Obelisk faschistischer Monumentalarchitektur, in dem der Name des in Teilen der Gesellschaft noch immer verehrten Anführers Benito Mussolini in großen Buchstaben eingraviert ist.

Bedenkt man zudem, dass Italien derzeit von der postfaschistischen Regierungspartei Fratelli d‘Italia mit ihrer Vorsitzenden und Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird, geriet die Heldenverehrung für einen Moment in ein anrüchiges Licht - doch der Schein trog glücklicherweise.

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Fabbri und Batocletti sind Aunahmen in Italiens Multi-Kulti-Truppe

Das heutige Italien ist zumindest im Sport längst über alle Zweifel erhaben und hat sich, ähnlich wie in Deutschland, durch ausländische Einflüsse gewinnbringend mit anderen Kulturen verbunden.

Tatsächlich ist Fabbri im Goldreigen der Squadra Azzurra fast schon ein Exot und tanzte am Samstag, zusammen mit der 5000-Meter-Siegerin Nadia Batocletti, im italienischen Multi-Kulti-Team, ein wenig aus der Reihe.

„Wir ernten jetzt die Früchte der zweiten multikulturellen Generation in Italien“, erklärt Mattia Chiusano, Journalist der Zeitung La Repubblica, im Gespräch mit SPORT1. „Alle diese Athleten sind in Italien aufgewachsen und kommen nun in ihre Blüte. Furlani (EM-Zweiter im Weitsprung, d. R.) hat beispielsweise eine senegalesische Mutter und einen italienischen Vater, der früher selbst Hochspringer war.“

Chiusano nennt weitere Beispiele: „Chituru Ali (Zweiter über 100 Meter, d. R.) hat afrikanische Eltern und ist in Como geboren. Oder denken Sie an Marcell Jacobs (Sieger über 100 Meter, d. R.), dessen Mutter vom Gardasee stammt, während sein Vater ein Amerikaner ist. Zehn Jahre hat es ungefähr gedauert – und jetzt explodieren die Talente geradezu.“

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Medaillenrausch? Bügner schiebt‘s auf den Heimvorteil

Dieser Ausbruch ist im Medailllenspiegel deutlich sichtbar: Schon nach vier Tagen hat Italien sagenhafte acht Goldmedaillen eingeheimst, zudem sechs Mal Silber und drei Mal Bronze gewonnen. Da kann die europäische Konkurrenz nur neidisch hinterherblicken oder - wie DLV-Sportvorstand Jörg Bügner es am Sonntag auf einer Pressekonferenz tat - auf den Heimvorteil verweisen.

„Es war ein sehr starker Auftritt der Italiener. Sie haben aus meiner Sicht sehr gut den Heimvorteil genutzt“, sagte Bügner. „Das ist für uns, die lange dabei sein, nicht wirklich erstaunlich. Ich erinnere mich an München (bei der EM 2022 lag das deutsche Team am Ende im Medaillenspiegel vorne, d. R.) und an Olympia 2012 in London, wo die Briten auch maßgeblich ihren Heimvorteil ausnutzten.“

Die spektakuläre Erfolgswelle der italienischen Leichtathletik nur auf die Unterstützung des heimischen Publikums zu schieben, greift allerdings viel zu kurz - auch, weil das Olympiastadion bei den Titelkämpfen bislang nur sehr spärlich gefüllt war.

In Wahrheit hat Verbandspräsident Stefan Mei - ein früherer Mittelstreckenläufer - mit einem radikalen Umschwung in den letzten Jahren die italienische Leichtathletik aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst.

Was Italiens Fördersystem vom deutschen unterscheidet

Unter dem etwas sperrigen Programmnamen „Orizzonte Atletica 2021-2028″ (Leichtathletik-Horizont 2021-2028) gelang es Mei, Strukturen zu etablieren, die die Athletinnen und Athleten befähigen, sich komplett auf den Leistungssport zu konzentrieren - auch außerhalb des Militärs. Während in Deutschland viele Kaderathleten, die nicht bei der Bundeswehr oder -polizei angestellt sind, ein zweites Standbein benötigen, um finanziell über die Runden zu kommen, können sich in Italien die hoffnungsvollsten Talente und gestandenen Stars, übrigens ähnlich wie in den Niederlanden, voll auf den Sport konzentrieren.

Der wichtigste Faktor sind aber nicht einmal die Sportler selbst, sondern die Trainer. Bereits vor zwei Jahren machte Thomas Dreißigacker, früherer DLV-Trainer und heutiger Coach von Mittelstrecken-Ass Robert Farken, bei SPORT1 auf die Missstände im deutschen Leichtathletik-Verband aufmerksam: „In der Regel erhalten die bundesfinanzierten Trainer einen Arbeitsvertrag für einen Olympiazyklus und werden mit einer möglichen Weiterbeschäftigung oftmals sehr lange im Dunkeln gelassen“, beklagte er.

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Dreißigacker wurde Opfer dieses Systems und betreut seit Januar 2022 für den Schweizer Sportartikelhersteller ON ein internationales Profiteam mit jungen Spitzenläuferinnen und -läufern, von denen einige derzeit bei der EM für Furore sorgen. Mit Marta Garcia (ESP/Bronze über 5.000 Meter), George Mills (GBR/Silber über 5.000 Meter) und Mohamed Attaoui (ESP/Silber über 800 Meter) hat der 36-Jährige schon drei seiner Athleten in die Medaillenränge geführt.

Während der DLV gerade bei der Trainerausbildung noch deutlichen Nachholbedarf hat, setzt der italienische Leichtathletik-Verband FIDAL schon länger konsequent auf eine hochprofessionelle Trainerausbildung - und erntet auch hier die Früchte.

„Das technische Level der Trainer, die allesamt aus Italien stammen, ist sehr hoch“, schwärmt Fausto Narducci, Herausgeber des Magazins Atletica im Gespräch mit SPORT1. „Wir haben eine richtige Schule im Sprint, der Mitteldistanz und den Sprüngen aufgebaut, die extrem stark ist.“

Simonelli tanzt mit Strohhut durch die Nacht

Man habe mittlerweile „eines der besten Systeme weltweit installiert“, sagt der frühere Chefredakteur der Gazzetta dello Sport. „Dahinter steht ein Verband, dessen Präsident Stefano Mei ein sehr harmonischen Umfeld geschaffen hat. Früher gab es viele Streitigkeiten, heute ist davon nichts mehr zu spüren.“

Dass die „Fratelli d‘Italia“ nicht nur in der Hymne besungen werden oder als Parteiname dienen, sondern unter den Athleten eine gelebte Wirklichkeit darstellen, bestätigte auch Marcell Jacobs nach seinem Sieg über die 100 Meter.

„Ich war natürlich auf mein eigenes Rennen fokussiert, wollte aber nicht die Sprünge von Mattia (Furlani, d. R.), die Stöße von Leonardo (Fabbri, d. R.) oder den Lauf von Simonelli verpassen“, sagte der Olympiasieger. „Wenn du diese Resultate siehst, dann gibt dir das den Extra-Schub. Wir motivieren uns gegenseitig, um immer stärker zu werden. Und dann erlebst du solche Nächte.“

Einer der italienischen Heroen dieser Nacht war der 22 Jahre alte Lorenzo Simonelli, der als Sohn einer Tansanierin und eines italienischen Anthropologen in dem ostafrikanischen Land geboren wurde und in Italien aufwuchs. Nachdem er mit der Weltklassezeit von 13,05 Sekunden über 110 Meter Hürden zum Sieg gestürmt war, setzte er sich einen Strohhut auf und tanzte durch die römische Nacht.

Genau genommen war da schon klar, dass das heutige Italien der Leichtathletik nichts mit der Heldenverehrung aus der Vergangenheit zu tun hat - dem riesigen Obelisken zum Trotz.