Seit Jahren kommt man in der deutschen Leichtathletik an diesem Namen nicht vorbei: Gina Lückenkemper.
Lückenkemper: „Bei EM selbst zerstört“
Die 26-Jährige, die im vergangenen Jahr bei der Europameisterschaft in München zu ihrem ersten großen internationalen Titel im 100-Meter-Sprint gelaufen war, will in diesem Jahr auch bei der Weltmeisterschaft in Budapest (19. bis 27. August) angreifen.
Für dieses Vorhaben sieht sich Deutschlands Sportlerin des Jahres 2022 bestens gerüstet. Erst kürzlich hat sie bei einem Meeting in Dessau ihre Topform unter Beweis gestellt.
Bei SPORT1 spricht sie über ihre Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft, die Zusammenarbeit mit ihrem amerikanischen Trainer Lance Brauman - und warum sie nur auf sehr wenige Meinungen zu ihrer Leistung etwas gibt.
SPORT1: Frau Lückenkemper, sind Sie schon in WM-Form?
Gina Lückenkemper: Wir sind immer noch auf dem Weg zur WM nach Budapest. Ich glaube nicht, dass wir schon am Ende der Fahnenstange für dieses Jahr angelangt sind. Ich glaube, dass da noch ein bisschen was geht. Ich bin dieses Jahr insgesamt auf einem komplett anderen Fitnesszustand als im vergangenen Jahr. Das liegt daran, dass ich bereits letztes Jahr komplett gesund und verletzungsfrei in das Jahr gestartet bin. Ich konnte normal durchtrainieren. Ich habe mich zwar bei der EM am Ende selbst zerstört, aber habe das große Glück gehabt, dass danach die Saison quasi vorbei war. Nur den ISTAF-Start habe ich leider verpasst. Diese letzte Saison gibt uns einen guten Grundstein, um weiterhin darauf aufzubauen. Das Niveau in diesem Jahr ist schon noch eine Spur krasser. Aber das große Ziel in diesem Jahr ist und bleibt die Weltmeisterschaft und die findet erst im August statt. Es ist alles nach wie vor darauf ausgelegt, dass wir im August richtig performen.
Gina Lückenkemper: „Bin aktuell zu Hause in Bamberg“
SPORT1: Sie befinden sich jetzt gerade nicht in Florida.
Lückenkemper: Ich bin aktuell zu Hause in Bamberg. Ich bin auch für den Rest des Sommers hier und fliege von hier zu den Wettkämpfen. Im Sommer spielt sich ja ohnehin die komplette Meeting-Saison in Europa ab. Spätestens für die Deutschen Meisterschaften hätte ich eh wieder zurück sein müssen. Für mich hätte es sich also nicht gelohnt, zwischendrin zurück nach Florida zu fliegen, auch wenn mein Trainer dort ist (Lance Brauman, d. Red.).
SPORT1: Stehen Sie deshalb hier alleine auf der Bahn oder haben Sie noch andere Ansprechpartner?
Lückenkemper: Ich bin den Großteil der Zeit allein auf dem Trainingsplatz. Wenn ich es aber mal nicht schaffe, vormittags zu trainieren, sondern tatsächlich erst am Nachmittag, dann habe ich es bedeutend leichter, um im direkten Austausch mit meinem Trainer zu stehen. Dann kann ich mich während der Trainingseinheit schon bei ihm melden und direkt das Feedback bekommen. Ansonsten trainiere ich meistens vormittags. Dann bin ich erst nach der Trainingseinheit mit Lance im Austausch. Ich bin aber mittlerweile erfahren genug, dass ich weiß, wie ich auf welche Situationen zu reagieren habe. Und ich weiß, dass ich mich jederzeit bei Jörg Möckel, dem Trainer von Rebekka Haase melden könnte, wenn ich mal Hilfe bräuchte.
SPORT1: Wie läuft der Kontakt mit Ihrem Trainer?
Lückenkemper: Wenn ich die Möglichkeit habe, dann schicke ich ihm sofort Videos. Es ist aber nicht immer der Fall, dass jemand da ist, der filmt. Lance muss sich da viel auf das verlassen, was ich ihm erzähle. Aber das sind immer relativ kurze Telefonate, weil er mittlerweile weiß, dass er sich auf meine Einschätzung und mein Körpergefühl verlassen kann.
Wie US-Coach Lance Brauman Lückenkemper prägt
SPORT1: Körperlich sind Sie fit. Haben Sie auch mental einen Sprung gemacht?
Lückenkemper: Ja. Lance sagt auch, dass es im Schnitt zwei Jahre dauert, bis der Athlet in einem neuen Umfeld gelernt hat, die Technik umzusetzen. Ich bin Ende 2019 nach Florida gegangen, war drei Monate da und dann kam Corona. Rein theoretisch haben wir jetzt gerade erst zwei Jahre durch. Natürlich habe ich mich aber auch weiterentwickelt. Ich bin und bleibe sehr wissbegierig. Der Ansatz von Lance im Training bezieht sich nicht nur darauf, mit uns auf dem Platz zu stehen und mit uns das Trainingsprogramm zu absolvieren. Er legt sehr, sehr viel Wert darauf, dass wir wirklich verstehen, was er von uns möchte. Wir sitzen jeden Mittwoch in einem Meetingraum zusammen und diskutieren verschiedene Aspekte des Sprintens, der Sprinttechnik, warum die Trainingsgestaltung so aussieht, wie sie aussieht. Er hat einen ganzheitlichen Ansatz hinter dieser Trainingsgestaltung. Manchmal spricht er auch über Motivation und hält uns eine kurze Motivationsansprache, wenn er der Meinung ist, dass die Gruppe das braucht.
SPORT1: Sie haben bei der Team-Europameisterschaft nicht teilgenommen. Woran lag das?
Lückenkemper: Bei den Team-Europameisterschaften gibt es für jede Einzeldisziplin nur einen Startplatz. Und die Team-EM gibt viele Punkte fürs World Ranking. Ich bin dieses Jahr aber in einer Ausnahmesituation: Ich habe es einfacher, in die höherklassigen Meetings reinzukommen, um World-Ranking-Punkte zu sammeln. Plus: Ich bin die Norm für die Weltmeisterschaften schon mehrfach gelaufen. Wir haben aber Athleten bei uns im Team, die viel mehr auf die World-Ranking-Punkte angewiesen sind. Darum habe ich verzichtet. Dann kam noch hinzu, dass wir uns mit der Staffel dazu entschieden haben, dass wir bei der Team-EM bewusst nicht in Topbesetzung laufen, damit andere Läuferinnen die Chance haben, Erfahrungen zu sammeln. Damit wir noch besser vorbereitet sind, sollte eine Läuferin kurzfristig ausfallen. Alle Läuferinnen sollen sich sicher fühlen, wenn sie in einen Hexenkessel wie 2022 in München reingeschmissen werden. Das ist definitiv nicht ohne. Deswegen war es am Ende sogar eine Entscheidung fürs Team.
SPORT1: Im vergangenen Jahr haben Sie viele Erfolge errungen. Wie lässt sich das dieses Jahr noch steigern?
Lückenkemper: (Lacht) Ich habe aus dem vergangenen Jahr immer noch eine Rechnung offen. Bei den Weltmeisterschaften war wieder im Halbfinale für mich Schluss. Zwar mit einer Zeit, die in den Jahren davor meist für eine Finalteilnahme gereicht hätte, aber das Niveau ist einfach krasser geworden. Ich habe aber auch zugelegt. Von daher glaube ich schon, dass ich da ein Wörtchen mitreden kann. Ich bin sehr gespannt, wie sich das Welt-Niveau noch weiterentwickelt in diesem Jahr, weil bisher einige Protagonistinnen im Frauensprint noch nicht wirklich in Erscheinung getreten sind. Die steigen teilweise erst bei ihren nationalen Meisterschaften ein, deshalb ist es ein bisschen eine Wundertüte. Aber für mich zählt meine Leistung an erster Stelle. Und mit der bin ich dieses Jahr durch die Bank weg sehr, sehr zufrieden
„Am Ende sollten nur fünf Meinungen für uns wichtig sein“
SPORT1: Spüren Sie aktuell so etwas wie Druck angesichts Ihrer jüngsten Erfolge?
Lückenkemper: Am Ende ist für mich nicht wirklich die Erwartungshaltung von außen wichtig, sondern meine persönliche Erwartungshaltung. Ich bin auch dankbar dafür, dass mein Coach mehr Wert auf ein ganzheitliches Konzept legt. Er hat mehrfach bei uns in Ansprachen gesagt, dass am Ende, wenn es um Meinungen zur Leistung geht, nur fünf Meinungen für uns wichtig sein sollten. Die von uns selbst, von unserem Coach und von den drei anderen Menschen, die uns am nächsten stehen und die am meisten mitbekommen. Da gibt es so viele Faktoren, die mit reinspielen, die für den Ottonormalmenschen vorm TV-Bildschirm gar nicht wirklich ersichtlich sind - gerade auf emotionaler Ebene. Das können nicht alle Sportler einfach so abschalten.
SPORT1: Spielt für Athleten auch Paris 2024 schon eine Rolle?
Lückenkemper: So weit plant eigentlich keine Athletin, die in diesem Sommer erfolgreich sein will. Die Athletinnen, die bisher noch nicht auf der Bahn aufgetaucht sind, sind verletzt oder waren es. Das ist nichts, was jemand ohne Grund macht. Es wäre für jede Athletin besser, wenn sie die ganze Zeit kontinuierlich trainieren könnte. Dann würde sie auch auf der Bahn stehen.
SPORT1: Welchen Stellenwert genießt die bald anstehende Deutsche Meisterschaft bei Ihnen?
Lückenkemper: Am Ende geht es um den Meistertitel. Jede Meisterschaft ist an sich immer besonders. Aber es ist nicht auf dem gleichen Stand wie eine Weltmeisterschaft. Es ist ein Teil meiner Road to Budapest. Ich möchte bei den Meisterschaften gut laufen. Kassel kommt mir natürlich sehr gelegen, weil meine Familie nicht allzu weit entfernt wohnt. Das ist etwas, was uns leider bei den größeren Meetings nicht ganz so häufig vergönnt ist in Deutschland. Deswegen freue ich mich umso mehr darauf, dass ich die Möglichkeit habe, in Deutschland vor deutschem Publikum laufen zu können.
SPORT1: Wer wird in Kassel die härteste Konkurrenz?
Lückenkemper: Meine schärfsten Konkurrenten werden Rebekka Haase, Lisa Mayer und Alexandra Burghardt sein. Also die EM-Siegerstaffel von München.
EM-Lauf in München: „Meine einzige Narbe“
SPORT1: Haben Sie schon mal so etwas wie einen perfekten Lauf selbst erlebt?
Lückenkemper: Ich glaube nicht daran, dass ein perfekter Lauf existiert. Egal welches Rennen, man wird immer Dinge finden, die man verbessern kann. Und egal mit welchem Sprinter ich mich darüber unterhalten habe, alle bezweifeln, dass es den perfekten Lauf gibt. Wir haben uns witzigerweise mit meinem Coach über Wayde van Niekerks 400-Meter-Weltrekord von 43,03 Sekunden unterhalten. Er trainiert ja auch bei Lance Brauman. Selbst da sind noch Dinge aufgefallen, die man verbessern könnte. Und das war ein Weltrekordlauf.
SPORT1: Denkt man im Ziel darüber nach, was man falsch gemacht hat?
Lückenkemper: Es kann sein, dass es solche Leute gibt, aber das ist auch immer ein bisschen situationsabhängig. In München habe ich mir über sowas überhaupt keine Gedanken gemacht.
SPORT1: Dort hatten Sie direkt nach dem Lauf mit ihrer Verletzung am Knie zu kämpfen. Ist das bisher Ihre schönste Narbe?
Lückenkemper: (lacht) Ja, aber auch tatsächlich meine einzige richtige Narbe. Es ist das erste Mal, dass ich genäht wurde. Es gibt Schlimmeres. Ich erinnere mich gerne zurück an diesen Abend in München.