In der deutschen Leichtathletik rumort es schon seit geraumer Zeit.
Schock für deutsche Top-Talente
Die schwachen Leistungen bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Eugene, als ein fast 80-köpfiges Team mit der mickrigen Ausbeute von zwei Medaillen nach Hause flog, riefen schon im Juli etliche Kritiker auf den Plan. (WM-Debakel: Stars fordern Konsequenzen)
Die Heim-EM in München mit insgesamt 16 Medaillen, davon sieben goldene, besänftigte die Kritiker kaum - schließlich spielt die Musik in der Leichtathletik hauptsächlich außerhalb Europas.
Der DLV versprach daraufhin eine „schonungslose Analyse“ und präsentierte kurz vor Weihnachten seine Ergebnisse. Unter anderem wolle man einen Sportdirektor verpflichten und bis Olympia 2028 wieder in die Top 5 der Weltelite vorstoßen.
Schocknachricht am Freitag, den 13.
Für seine größten Talente, die in fünfeinhalb Jahren in Los Angeles die Kohlen aus dem Feuer holen sollen, habe man ein neues „Future-Team“ gegründet, meldete der Verband - und versprach eine „noch individuellere und umfassendere Begleitung im Training und im Athletenservice“.
Klang erstmal gut - doch für 77 deutsche Top-Talente aus dem deutschen Perspektivkader fühlen sich diese Worte mittlerweile wie Hohn an. Ausgerechnet am Freitag, den 13. Januar, kam die Schocknachricht per Mail.
Die Sporthilfe, die für die Ausschüttung der Fördergelder zuständig ist, meldete sich bei jenen 77 Athleten und bedauerte in dem Schriftsatz, dass sie nicht ins Top Team Future aufgenommen werden könnten - und folglich keine finanzielle Unterstützung erhalten würden.
Dabei hatten die jungen Leichtathleten eigentlich die Voraussetzungen erfüllt, schließlich standen sie bereits im Perspektivkader des DLV. Wer jenem Kader angehört, und nicht bei Bundeswehr oder Bundespolizei angestellt ist, hat Anspruch auf etwa 700 Euro monatlich - zumindest war das bis zum vergangenen Jahr so.
Warum in diesem Jahr die Gelder plötzlich nicht mehr ausreichen, bleibt ungeklärt. Es klingt wie ein kurioses Possenspiel - und ist doch bittere Realität.
77 Nachwuchsathleten schauen in die Röhre
Primär geht es um einen eklatanten Mangel an Kommunikation zwischen dem DLV und der Sporthilfe. Weil der Verband beschlossen hatte, auch die international erfolgreichen U18- und U20-Athleten mit in den Kaderkreis des Perspektivkaders aufzunehmen, vergrößerte sich dieser Kreis um 77 auf 270 Athleten.
Es hätte keiner Rechenkunst bedurft, dass die Gelder für den erweiterten Kader nicht mehr ausreichen. Allerdings informierte der DLV die Sporthilfe wohl zu spät über sein Vorhaben, so dass diese weiterhin mit 200 Athleten für ihr „Top Team Future“ plante - und folglich 77 Athleten aussieben musste.
SPORT1 hat mit drei Athleten aus dieser Gruppe gesprochen: Speerwerfer Moritz Morstein sowie die Kugelstoßer Xaver Hastenrath und Philipp Thomas - drei deutsche Top-Talente und potenzielle Olympia-Kandidaten für besagtes Ziel-Jahr 2028.
„Nachdem ich 2022 meine Leistungen erbracht habe, habe ich natürlich damit gerechnet, dass ich auch die finanzielle Förderung erhalten werden“, sagt Morstein, der das aufkommende Unglück rekapituliert
„Am 3. November kam wie erwartet die Berufung in den Perspektivkader - und dann war eine ganze Weile Ruhe. Am 14. Dezember wurden wir darüber informiert, dass unser bisher zuständige Ansprechpartner bei der Sporthilfe seine Tätigkeit beendet und es einen Nachfolger gebe. In jener Mail wurde extra darauf verwiesen, dass wir uns zur Fördereinstufung bitte nicht telefonisch melden sollen, da dies innerhalb kürzester Zeit über den neuen Ansprechpartner folgen würde.“
„So wie ihr euch das gedacht habt, wird das wohl nichts werden“
Für Morstein und seine Kollegen kam zwei Tage vor Weihnachten per Mail die böse Überraschung: „Nach dem Motto: ‚So wie ihr euch das gedacht habt, wird das wohl nichts werden‘. In jener Mail der Sporthilfe hieß es, dass es zu einer Fehlkommunikation zwischen Verband und Sporthilfe gekommen sei“, erinnert sich der 19 Jahre alte Speerwerfer.
Morstein: „Für mich als Athleten kam das so an, als hätte sich jemand auf gut Deutsch einfach nicht abgestimmt. Der DLV hat die Sporthilfe nicht darüber informiert, dass der Kaderkreis größer wird, sondern ist davon ausgegangen, dass die Sporthilfe das stemmen kann. Sie haben Kaderrichtwerte und -struktur verändert, die Sporthilfe, also den Geldgeber, aber nicht darüber in Kenntnis gesetzt. Nun sagt die Sporthilfe, sie könne den Kader in dieser Größe nicht stemmen.“
Auf SPORT1-Nachfrage beim DLV erklärt Dietmar Chounard, Cheftrainer der U23, das Vorgehen damit, dass die U18- und U20-Athleten durch die Integration in den Perspektivkader „in die Projektförderung der Jahresplanung und den Athletenservice des DLV eingebunden und somit deutlich besser als bisher unterstützt werden“.
Die Sporthilfe habe indes nur Gelder für etwa 200 Athleten - und eben nicht für 277, wie sie aktuell im Perspektivkader des DLV gelistet sind. Eine Erkenntnis, mit dem der Verband reichlich spät nicht nur an die Öffentlichkeit, sondern offenbar auch an die Sporthilfe selbst trat.
Man könne die Enttäuschung der Athleten „sehr gut nachvollziehen“, sagt Chounard noch, und bedauere „die Entwicklung sowie den Kommunikationsprozess sehr“.
Kugelstoßer Philipp: „Das war ein riesiger Schock“
Allein: Mit Bedauern und Verständnis können sich die betroffenen Athleten buchstäblich nichts kaufen. Die fest eingeplanten 700 Euro müssen sie nun in Eigenregie aufbringen, was mit den sportlichen Ambitionen in den seltensten Fällen kompatibel sein dürfte.
„Im ersten Moment ist für mich eine Welt zusammengebrochen und ich habe kurz überlegt, wie es mit der professionellen Karriere weitergehen soll“, schildert Philipp Thomas: „Ohne Förderung mein Sportlerleben finanzieren? Das war ein riesiger Schock.“
Da der Kugelstoßer fest vom 700-Euro-Zuschuss ausging, habe er sich zunächst gegen eine Ausbildung entschieden, auch um es im kommenden Jahr noch einmal bei der Bundeswehr oder Bundespolizei zu versuchen.
Statt sich intensiv der Profikarriere zu widmen, muss Thomas, immerhin Fünfter der U-20-Weltrangliste 2022, nun sehen, wie er zurecht kommt. „Ich habe gerade zwei Minijobs, um irgendwie an Geld zu kommen, dazu trainiere ich täglich zwei Mal. Ich renne jeden Tag von 7 bis 21 Uhr von einem stressigen Termin zum nächsten.“
Dass dies auf Dauer nicht funktioniert, erklärt sich von selbst. „Wenn sich nichts an der Situation ändert, weiß ich nicht, ob mein Körper das noch lange aushält.“
Sport, Studium und zwei Jobs - wie soll das funktionieren?
Auch Morstein, der den Männerspeer im vergangenen Sommer schon auf 74,16 Meter schleuderte und 2023 für die U23-EM in Finnland plant, steckt nun in der Bredouille.
Auch er hat zwei Nebenjobs - und zudem noch ein Studium zu bewältigen. „Miete, Essen, Fahrten usw. musst du jetzt also irgendwie privat stemmen“, sagt er. Bei manchen der 77 Athleten sei die plötzliche Hiobsbotschaft teilweise existenzbedrohend gewesen: „Das Schreiben der Sporthilfe kam am 22. Dezember, die Miete wird aber am 1. oder 15. abgebucht - das heißt, man hatte eineinhalb oder drei Wochen Zeit, um das Geld für die Miete aufzutreiben, wenn man es nicht locker auf der Hand hat.“
Statt des DLV springen nun wieder die Stellen ein, die schon zuvor bis zur Volljährigkeit der Athleten da waren. „Jetzt müssen also wieder die Landesverbände, die Olympiastützpunkte, die Vereine selbst, aber besonders auch die Eltern der Athleten wieder mal einspringen, um Leistungssport möglich zu machen“.
Vor allem sein Verein, der Sportclub Magdeburg, setze „Himmel und Hölle in Bewegung, dass wir Athleten irgendwie aufgefangen werden“, schildert Morstein.
Auch bei Kugelstoßer Xaver Hastenrath, mit einer Bestweite von 18,94 Meter an der Schwelle zur nationalen Spitze, habe sich die Planung für das kommende Jahr drastisch geändert. „Ich wollte eigentlich in eine eigene Wohnung ziehen und mich durch den Sport selbst finanzieren, schildert der 19-Jährige. „Nun brauche ich für mein Auto und für die Finanzierung der Lebensmittel die Unterstützung meiner Eltern und kann mich nicht selbst finanzieren.“
Kleiner Hoffnungsschimmer am Horizont
Weil sich der DLV einen Lapsus erlaubt, sollen jetzt also die Eltern Deutschlands künftige Medaillenhoffnungen mitfinanzieren?
„Das System Leichtathletik in Deutschland kann nicht darauf bauen, dass alles von Mama und Papa durchfinanziert wird“, findet Morstein: „Wenn internationale Medaillen gewonnen werden, stellt sich im Verband niemand hin und sagt, dass Mama und Papa dafür die Grundlage waren.“
Eine kleine Hoffnung besteht zumindest noch, dass Morstein, Hastenrath, Thomas und die übrigen 74 Athleten nicht komplett leer ausgehen.
Am vergangenen Freitag erhielten die Athleten das erste Schreiben des DLV seit jenem 3. November, als die Berufung in den Perspektivkader erfolgte. Man erbete sich Geduld und arbeite an einer Lösung.
Dabei befinde man sich „im Austausch mit der Sporthilfe“, sagt DLV-Trainer Chounard noch bei SPORT1. Besser spät als nie.