Mit ihren zwei Goldmedaillen bei der EM in München hat sich Gina Lückenkemper nach einigen schwierigen Jahren eindrucksvoll in der Weltelite zurückgemeldet. (Ansage an die Sport-Nation)
„Kribbelt am ganzen Körper“
In Erinnerung bleiben wird vor allem der schmerzhafte Zielsturz beim 100-Meter-Finale, durch den sie sich haarscharf gegen ihre Konkurrentinnen durchsetzen konnte.
Drei Monate später ist die 25-Jährige noch immer euphorisiert, wenn sie an diesen Moment denkt - auch wenn sie durch ihr waghalsiges Finish verletzungsbedingt die Saison beenden musste. Erst nach den Titelkämpfen wurde ein Kapselriss festgestellt.
Wie Lückenkemper im SPORT1-Interview erklärt, wäre sie die 4x100-Meter-Staffel auch dann gelaufen, wenn sie die Diagnose schon gekannt hätte.
Außerdem beschreibt sie noch einmal die Gänsehaut-Momente von München, welche ihrer Trainingskollegen sie „Meisterin“ nennt und wie sie den Hurrikan in Florida erlebt hat.
Lückenkemper: „Dann bekomme ich noch immer Gänsehaut“
SPORT1: Frau Lückenkemper, die abgelaufene Saison war in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte für Sie. Hätten Sie sich im Vorfeld träumen lassen, dass sie so erfolgreich wird?
Gina Lückenkemper: Ich bin verletzungsfrei und ohne Probleme durch die Vorbereitung gekommen. Von daher hatte ich schon gehofft, dass es für mich ein schneller Sommer werden würde. Dass die Saison mit zwei EM-Titeln jedoch so extrem erfolgreich wird, hätte ich zu Beginn des Jahres aber nicht gedacht.
SPORT1: In den Jahren davor haben Sie durch einige Verletzungen auch die Kehrseiten der Sportlerkarriere erlebt. Macht es die Erfolge 2022 noch wertvoller?
Lückenkemper: Absolut! Durch die schwierigeren Jahre weiß ich die Erfolge aus diesem Jahr einfach noch viel mehr wertzuschätzen. Wenn man als Sportler durch Täler gegangen ist, nimmt man Erfolge noch intensiver wahr.
SPORT1: In Erinnerung bleibt vor allem der Finallauf bei der EM, als Sie mit einem waghalsigen Finish buchstäblich zur Goldmedaille ins Ziel gehechtet sind. Können Sie noch einmal Ihre Emotionen schildern, als Sie die 1 an der Anzeigetafel sahen?
Lückenkemper: Wenn ich an das EM-Finale zurückdenke, bekomme ich noch immer Gänsehaut. Es kribbelt gerade am ganzen Körper. Tatsächlich sind bei mir die Emotionen im Stadion sogar schon früher hochgekocht. Nicht erst, als ich die 1 auf der Anzeigetafel gesehen haben, sondern als ich das Raunen, die Begeisterung des Publikums gehört und gespürt habe. Das konnte für mich ja nur bedeuten, dass es verdammt gut gewesen sein musste. Dass es sogar für den Sieg gereicht hat, war einfach der absolute Wahnsinn und komplett überwältigend. Im ersten Moment habe ich gar nicht so wirklich verstanden, was das überhaupt bedeutet. Es war einfach ein absoluter Befreiungsschlag. So wie die gesamte Saison 2022 mit Zeiten unter elf Sekunden und WM-Bronze mit unserer Sprint-Staffel.
SPORT1: Wie sich später herausstellte, hatten Sie sich durch den Sturz schwerer verletzt. Trotzdem haben Sie drei Tage später mit ihren Staffelkolleginnen die Goldmedaille geholt. Wären Sie an den Start gegangen, wenn damals schon Ihr Kapselriss diagnostiziert worden wäre?
Lückenkemper: Definitiv ja! Für ein Rennen kann man immer irgendwie die Zähne zusammenbeißen. Ich wollte an diesem Abend, in diesem Stadion unbedingt noch einmal mit den Mädels auf der Bahn stehen und diese besondere Atmosphäre genießen. Schließlich haben wir alle für genau diese Momente das ganze Jahr über hart trainiert. Und wenn mich die Fäden im Knie nicht aufhalten, dann schafft das auch die Kapsel nicht. Nicht für dieses eine Rennen mit dieser unfassbar tollen Truppe! Man darf nicht vergessen: Nach 2018 in Berlin war München meine zweite Heim-EM, eine dritte werde ich in meiner Karriere wohl nicht mehr erleben.
„Richards sagt immer ‚Meisterin‘ zu mir“
SPORT1: Ist die Verletzung mittlerweile komplett ausgeheilt?
Lückenkemper: Ja. Ich konnte mein Training zum geplanten Zeitpunkt ohne Einschränkungen wieder aufnehmen.
SPORT1: Sie befinden sich derzeit wieder bei Ihrer Trainingsgrupp in Florida. Wie sind Ihre ersten Eindrücke? Und wie haben eigentlich Ihre Trainingskollegen auf die EM-Erfolge reagiert?
Lückenkemper: Meine Trainingskollegen haben sich schon während der EM-Tage im August wahnsinnig mit mir gefreut. Auch hier in der Gruppe in Clermont (Florida, d. R.) wurde ich herzlich empfangen und ein bisschen gefeiert. Jereem Richards, unser Commonwealth-Champion aus Trinidad & Tobago über 200 Meter in 19,80 Sekunden, hat mich als Erstes gefragt, wie man denn „Champion“ auf Deutsch übersetzt. Wenn die Trainingseinheiten hart sind und ich mal wieder an meine Grenzen gehe, sagt er immer nur mit einem Grinsen im Gesicht „Meisterin“ zu mir. Für mehr reicht dann auch bei ihm die Luft meistens nicht.
SPORT1: Apropos Florida: Wie haben Sie den Hurrikan Nicole erlebt, der Mitte November über Florida gezogen ist?
Lückenkemper: Ich bin tatsächlich zwei Tage, bevor Nicole auf Florida getroffen ist, wieder hier angekommen und habe erst am Flughafen erfahren, dass sich überhaupt ein Hurrikan auf die Küste zubewegt. Flughafenmitarbeiter haben sich über die Schließung des Flughafens im Verlauf des folgenden Tages unterhalten. Das war im ersten Moment natürlich etwas beängstigend, aber meine Nachbarn und mein Coach haben mir diese Angst schnell genommen und mir Tipps gegeben, wie ich mich am besten auf die Situation vorbereite. Da wir in Zentralflorida sind, hatten wir wirklich Glück. Der Hurrikan war bei uns „nur noch“ ein Tropensturm und hat in der Region nicht allzu große Schäden angerichtet. An der Küste sieht das leider ganz anders aus.
SPORT1: Was haben Sie sich für die kommende Saison vorgenommen? Greifen Sie wieder voll an oder ist das für Sie eher eine Zwischensaison auf dem Weg zu Paris 2024?
Lückenkemper: 2023 steht die WM in Budapest als Saisonhöhepunkt auf dem Programm. Da möchte ich mich natürlich in bestmöglicher Form präsentieren und wie Sie sagen angreifen. Jeder gute Lauf ist wichtig für kommende Ziele. Denn schnell rennen lernt man nur von schnell rennen. Und das geht am besten im Wettkampf.