In seiner Schweizer Heimat ist Simon Ehammer spätestens seit dem vergangenen Samstag ein Volksheld. Da gelang dem 22-Jährigen in der zweiten Disziplin innerhalb des Zehnkampfes in Götzis nahezu Unglaubliches.
Fabel-Sprung: Prägt er eine neue Ära?
Ehammer setzte einen 8,45-Meter-Sprung in die Grube und verbesserte damit seinen eigenen Weltrekord innerhalb eines Zehnkampfes um 15 Zentimeter. Nebenbei steigerte er seinen Schweizer Weitsprung-Rekord und stellte eine Jahresweltbestweite bei den Spezialisten auf.
Mit seiner Weite von Götzis wäre der Appenzeller im vergangenen Jahr in Tokio noch Weitsprung-Olympiasieger geworden. Den Zehnkampf schloss er mit 8377 Punkten ab, ebenfalls eine Schweizer Bestleistung.
Im Interview mit SPORT1 erklärt Ehammer, welche Gefühle ihn nach seinem Wundersprung übermannten, was ihn am Zehnkampf fasziniert - und warum er sogar den legendären Weitsprung-Weltrekord von Carl-Lewis-Schreck Mike Powell (8,95 Meter) aus dem Jahr 1991 nicht für außer Reichweite hält.
SPORT1: Herr Ehammer, am vergangenen Wochenende sind Sie in Götzis während eines Zehnkampfes 8,45 Meter gesprungen - und damit weiter als alle Weitsprung-Spezialisten in diesem Jahr. Haben Sie gleich gewusst, was Ihnen da geglückt ist?
Simon Ehammer: Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass der Sprung übertreten ist. Als dann die weiße Flagge kam, wusste ich, dass er über acht Meter weit war. Und dann kamen erst die Fragen, was es jetzt ist und über welche Weite ich mich freuen darf. Dass ich bei 8,45 Meter gelandet bin, hätte ich aber nicht gedacht.
Ehammer: „Ich war einfach sprachlos“
SPORT1: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Weite sahen?
Ehammer: Ich war ein wenig ungläubig und geschockt. So ein Saisonstart mit den ersten beiden Sprüngen (8,30 Meter in Ratingen, 8,45 Meter in Götzis, d. R.) war schon ein bisschen surreal. Ich war einfach sprachlos.
SPORT1: Dass Sie solch eine Weite prinzipiell in den Beinen haben, wussten Sie aber schon vorher, oder?
Ehammer: Ja, Ich hatte vor einiger Zeit gesagt, dass es mein Ziel ist, diese Saison 8,40 m, 8,50 m oder sogar 8,60 m zu springen.
SPORT1: Ist das Zehnkampftraining für einen Weitspringer nicht teilweise kontraproduktiv, weil man unter anderem auch Ausdauer trainieren muss? Oder anders gefragt: Würden Sie im Weitsprung noch besser werden, wenn Sie sich darauf konzentrieren?
Ehammer: Ganz im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass genau dieses Zehnkampftraining der ausschlaggebende Punkt ist, wieso ich so weit springe. Natürlich bin ich ein schnellkräftiger Athlet, der von den schnellen Disziplinen kommt. Durch das Mehrfachtraining habe ich verschiedene Bewegungsabläufe und kann auch den Weitsprungablauf besser machen. Ich habe oft das Gefühl, wenn man Spezialist ist, dass man sich gerne mal zu sehr verkopft und nicht explizit auf etwas schauen sollte.
SPORT1: Im Zehnkampf haben Sie sich auf 8377 Punkte verbessert und sogar Weltmeister Niklas Kaul hinter sich gelassen. Dennoch gibt es gerade in den technischen Disziplinen noch gewaltige Verbesserungspotenziale, oder?
Ehammer: Genau, vor allem in den Wurfdisziplinen. Mit der Kugel bin ich mittlerweile sehr konkurrenzfähig, da weiß ich, dass ich 15 Meter stoßen kann und nur noch ein wenig die Konstanz fehlt. Der Speer kommt langsam auch ins Fliegen. Der Diskus fliegt zumindest im Training schon mal, auch wenn mir selbstverständlich noch eine gewisse Routine und Sicherheit fehlt. Im Training läuft es sehr gut, weil man immer das gleiche Umfeld hat, im kleinen Rahmen ist, sich auf die Distanz vorbereiten und fokussieren kann. Das ist im Wettkampf natürlich anders. Da muss man jetzt einfach viele Würfe machen, bis die Steigerung kommt. Sicherlich müssen auch die 1500 Meter noch besser werden. Aber ich bin sehr zuversichtlich.
Weitsprung? „Fokus liegt auf dem Zehnkampf“
SPORT1: Kommen wir zu den beiden Großveranstaltungen in diesem Jahr - der WM in Eugene und der EM in München. Haben Sie sich schon entschieden, in welchen Disziplinen Sie an den Start gehen?
Ehammer: Ja, ich lege den Fokus bei der WM auf den Weitsprung und bei der EM auf den Zehnkampf. Die beiden Großveranstaltungen liegen nur 21 Tage auseinander, zudem kommt die Anreise hinzu. Man muss 14 Stunden fliegen, plus Jetlag, plus Vorbereitung, plus Erholung. Daher haben wir entschieden, dass es schwierig, zwei Zehnkämpfe zu bewältigen, wenn man auf höchstem Level performen möchte. Ich habe mit dem Weitsprung eine Disziplin, in der ich auch konkurrenzfähig bin.
SPORT1: Sie sind erst 22 Jahre alt. Da gibt es noch gewaltige Potenziale, die in Ihnen schlummern, oder? Wie wollen Sie die herauskitzeln?
Ehammer: Ja, auf jeden Fall. Ich habe in Götzis noch mit lange mit Arthur Abele (deutscher Europameister von 2018, d. R.) geredet. Er hat mir gesagt, dass man die Wurfdisziplinen mit zunehmendem Alter perfektioniert. Das habe ich natürlich gerne gehört. Man hat zehn Disziplinen und braucht einfach eine gewisse Anzahl an Stunden, die wir in den verschiedenen Disziplinen investieren. Deswegen werden wir ganz ganz viel werfen und den Fokus auf diese Disziplin legen, damit wir da den Fortschritt machen. Wir haben mittlerweile eine gute Grundlage in der Schnelligkeit, wo wir wissen, dass wir nicht mehr so viel investieren müssen. Das trainieren wir zwar noch, aber nicht in dem Umfang, wie es früher war. Jetzt können wir mit dem Umfang beginnen, den wir für den Wurf benötigen, um 60 Meter im Speer, 15 Meter mit der Kugel oder 44 Meter im Diskus zu haben. Wenn das plötzlich da ist, hat man direkt eine Vielzahl mehr an Punkten und das Ganze sieht schon anders aus.
SPORT1: Können Sie sich vorstellen, mal eine Saison auf den Zehnkampf zu verzichten und nur im Weitsprung zu starten?
Ehammer: Das ist erstmal nicht geplant. Letztes Jahr war es verletzungsbedingt so, dass ich nur Weitsprung gemacht habe. Grundsätzlich ist mir aber klar, dass der Hauptfokus immer auf dem Zehnkampf liegt, wenn wir zweigleisig fahren. Was wir im Weitsprung noch mitnehmen können, das nehmen wir mit. Diamond-League-Meetings wie in Rabat und Oslo nehme ich dankend an - aber immer mit dem Hauptfokus auf dem Zehnkampf. Es kann sein, dass ich irgendwann mit 29 Jahren nur noch Weitsprung mache oder eine Verletzung dazwischenkommt.
„Vielleicht komme ich mit zwei Goldmedaillen nach Hause...“
SPORT1: Im Weitsprung liegt der Weltrekord mit 8,95 Meter - mit dem Mike Powell damals den Jahrhundertsprung von Bob Beamon getoppt hat - genau einen halben Meter über Ihre Weite von Götzis. Würden Sie es ausschließen, dass Sie eines Tages zumindest in die Nähe dieser Fabelweite springen?
Ehammer: Die Entwicklung ist richtig cool anzuschauen, wenn man sieht, wie ich mich im letzten Jahr gesteigert habe. Aber die Luft wird jetzt immer dünner, je weiter man springt. Ich setze mir keine Grenzen im Mehrkampf und setze mir keine Grenzen im Weitsprung. Natürlich strebe ich immer dazu, das Beste zu erreichen und der Beste zu sein. Das ist gleichbedeutend mit dem Ziel, irgendwann Weltmeister zu sein oder einen Weltrekord zu knacken. Aber dafür habe ich noch viel Zeit. Ich setze mir lieber das Ziel, in diesem Jahr noch 8,50 m zu springen oder bei der WM die Spezialisten zu ärgern. Der Rest ist ein Prozess, der kommt.
SPORT1: Was sagen Sie zum deutschen Paralympics-Athleten Markus Rehm, der mit Prothese schon 8,62 Meter gesprungen ist?
Ehammer: Es ist beeindruckend, wie Athleten mit solchen Nachteilen ihren Zielen weiter nachgehen und als Para-Athleten solche Leistungen erbringen. Ich finde es extrem schön, ihm zuzuschauen, weil er eine sehr schöne Sprungtechnik hat und es sehr beeindruckend ist, was er abliefert.
SPORT1: Letzte Frage: Worüber würden Sie sich mehr freuen: Olympiasieg 2024 als Weitspringer oder als Zehnkämpfer?
Ehammer: Definitiv als Zehnkämpfer! Ich hoffe aber, dass ich bei den Olympischen Spielen vielleicht sogar in beiden Disziplinen an den Start gehen und um die Medaillen mitkämpfen kann. Vielleicht geht es so gut aus, dass ich mit zwei Goldmedaillen heimkomme.