Jelena Issinbajewa redete unaufhaltsam auf ihren Stab ein, wie sie es vor jedem wichtigen Sprung tut, dann flog sie in der Londoner Abenddämmerung den Sternen entgegen.
Als Issinbajewa neue Sphären erreichte
Schneller Anlauf, perfekter Absprung, akrobatisch über die Latte - ein Höhenflug für die Geschichtsbücher. Am 22. Juli 2005 überquerte die Russin als erste Athletin die im Frauen-Stabhochsprung magischen 5,00 Meter.
20 Jahre und neun Tage nach dem ersten Sechs-Meter-Sprung von Sergej Bubka avancierte die mittlerweile zweimalige Olympiasiegerin (2004 und 2008) endgültig zum weiblichen Pendant des schon zu Lebzeiten legendären Ukrainers. Der Rekordsprung über die fünf Meter wirkte dabei so federleicht, als hätte ihn die ehemalige Turnerin im Training schon ein Dutzend Mal vollführt.
Issinbajewa stieß noch in der Luft einen spitzen Jubelschrei aus, unten angekommen sank sie auf die Knie und wurde von ihren Gefühlen überwältigt. "Es ist einfach unbeschreiblich, die erste Frau zu sein, die über fünf Meter gesprungen ist", sagte die heute dreimalige Weltmeisterin damals: "Das war schon immer mein großer Traum, seit ich mit dem Stabhochspringen angefangen habe. Ich bin sehr, sehr glücklich."
Erfolgreichste Stabhochspringerin aller Zeiten
Der 17. Weltrekord ihrer Karriere war zugleich ihr zweiter binnen weniger Minuten beim Super-Grand-Prix in der englischen Hauptstadt, kurz zuvor hatte Issinbajewa ihre erst sechs Tage alte Bestmarke von 4,95 m um einen Zentimeter verbessert. Den 50.000-Dollar-Scheck für die neue Bestmarke überreichte ihr Bubka gleich höchstpersönlich.
Genau wie der Ukrainer schraubte Issinbajewa - geboren am 3. Juni 1982 in Wolgograd - den Weltrekord Zentimeter für Zentimeter nach oben bis auf die seit August 2009 bestehende Rekordmarke von 5,06 m. Die "Salami-Taktik" sicherte ihr wie ihrem Vorläufer Aufmerksamkeit und Prämien über einen längeren Zeitraum.
Insgesamt stellte sie in der Halle und im Freien 30 Weltrekorde auf und gilt deshalb noch immer als erfolgreichste Stabhochspringerin aller Zeiten.
Kritik wegen Haltung im russischen Doping-Skandal
Issinbajewas Karriere klang 2014 aus, als sie erstmals Mutter wurde, Vater ist der Speerwerfer Nikita Petinow.
Ein geplantes Comeback bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro platze wegen des Staatsdoping-Skandals in der russischen Leichtathletik, in dem Issinbajewa als vehemente Verteidigerin ihrer Staatsführung auffiel.
Die ausgewiesene Anhängerin von Wladimir Putin wurde Ende 2016 sogar kurzzeitig zur neuen Aufsichtsrats-Chefin der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada berufen. Wenige Monate später musste sie auf Druck des Weltverbands WADA wieder gehen, der eine politisch neutrale Person auf dem Posten sehen wollte.
In ihrer Heimat macht Issinbajewa derweil weiter Karriere, beim IOC und auch außerhalb: Anfang 2020 etwa wurde sie zusammen mit anderen prominenten Putin-Getreuen in ein Gremium berufen, das eine Verfassungsreform in dessen Sinne erarbeiten sollte - obwohl sie offen zugab, sich vorher nie mit dem Thema beschäftigt zu haben.