Im vergangenen November hat Gina Lückenkemper einen radikalen Schritt in ihrer Sportlerkarriere vollzogen. Weil ihr langjähriger Trainer Uli Kunst in Rente ging, begab sich die beste deutsche Sprinterin unter die Fittiche von US-Coach Lance Brauman in die USA und schloss sich einer hochkarätigen Trainingsgruppe an.
Lückenkemper erklärt ihren Wechsel
"Tempoläufe in diesem Umfang, wie ich sie jetzt mache, habe ich den letzten Jahren nie gemacht", berichtet Lückenkemper im SPORT1-Interview. Seit ihrem Umzug nach Clermont/Florida hat die 23-Jährige zwei derart intensive Trainingsblöcke hinter sich, "dass ich aktuell so fit bin wie zu diesem Zeitpunkt noch nie."
Die Vize-Europameisterin von 2018, die in der vergangenen Saison unter ihren Erwartungen blieb, spricht außerdem von ungewöhnlichen Maßnahmen ihres neuen Trainers, ihre Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele und das Coronavirus.
SPORT1: Frau Lückenkemper, Sie haben im November einen großen Schritt gewagt und sich der Trainingsgruppe von Lance Brauman angeschlossen. War dafür die, für ihre Verhältnisse, eher schlechte Saison 2019 der Auslöser?
Gina Lückenkemper: Nein, absolut nicht. Mir wurde schon zu Beginn der Saison die Möglichkeit eröffnet, mich der Gruppe von Lance Brauman anzuschließen. Darüber habe direkt mit meinem damaligen Coach Uli Kunst gesprochen. Da Uli nach dieser Saison in Rente geht, hätte ich mich ohnehin spätestens dieses Jahr nach einem neuen Trainer umschauen müssen. Von daher kam für uns - also für Uli und mich - die Möglichkeit sehr gelegen, in die USA zu gehen und mich der Gruppe von Lance Baumann anzuschließen. Es passte einfach alles und ich denke, dass es der richtige Zeitpunkt war, um diesen Schritt zu gehen.
"Es passte einfach alles"
SPORT1: Sie haben schon zwei Trainingsblöcke in Clermont absolviert. Erzählen Sie mal, wie die Umstellung vom Training in Deutschland verlief. Sie hatten ja im Herbst schon befürchtet, dass die nächsten Wochen ziemlich weh tun werden.
Lückenkemper: Die ersten Blöcke haben weh getan und tun auch jetzt teilweise noch weh. Ich glaube, das wird auch nicht so schnell aufhören. Das Training ist schon intensiver als das, was ich zuvor gewohnt war und wie ich bisher trainiert habe. Das ist aber nichts Schlechtes, weil es mich im Training auch mehr an meine Grenzen bringt. Es bringt mich einfach raus aus meiner Komfortzone, was ich auch wollte. Ich begebe mich allein dadurch schon aus meiner Komfortzone, dass ich nicht mehr von Familie und Freunden umgeben bin, sondern ich allein in einem vollkommen fremden Land für mehrere Wochen bzw. Monate im Jahr bin. Wobei ich sagen muss, dass meine Trainingsgruppe mich super herzlich aufgenommen hat – es sind alles tolle Menschen und Trainingskollegen. Das Training macht echt Spaß, auch, wenn es noch so hart ist.
SPORT1: Hatten Sie dadurch weniger Heimweh?
Lückenkemper: Auf jeden Fall. Das hat mir das Ganze insgesamt leichter gemacht, als ich mir das vorgestellt habe. Man hat schon ein bisschen Sorge, wenn man nicht genau weiß, was einen erwartet. Es hätte auch genauso gut sein können, dass ich relativ schnell feststelle, dass das überhaupt nichts für mich ist. Wobei ich mir schon sicher war, weil ich schon im Vorfeld einige Gespräche mit Coach Brauman hatte und er mit mir Trainingsbeispiele durchgegangen ist. Insgesamt wurden meine Erwartungen komplett erfüllt. Ich fühle mich mittlerweile rundum wohl, wenn ich drüben bin.
SPORT1: Wie ist es denn, mit Athleten wie Noah Lyles und Shaunae Miller-Uibo zu trainieren?
Lückenkemper: Spannend – auch die Athleten bei ihrem Verhalten im Training zu beobachten. Wie gehen sie mit gewissen Situationen um, wie gehen sie mit gewissen Einheiten im Training um? Man kann da eine Menge lernen, wie man an Tempoläufe herangeht. Tempoläufe in diesem Umfang, wie ich sie jetzt mache, habe ich den letzten Jahren nie gemacht. Das ist nochmal ein anderes Level und an die Tempoläufe mit der entsprechenden Einstellung heran zu gehen, da gehört schon etwas zu. Da konnte ich viel von der Herangehensweise meiner Trainingskollegen lernen - von Noah, Shaunae oder den anderen Athleten in der Trainingsgruppe.
Tempoläufe "teilweise echt böse"
SPORT1: Wie ist der Zusammenhalt in der Gruppe?
Lückenkemper: Man merkt, dass wir im selben Boot sitzen und gewisse Ziele haben, die wir erreichen möchten und alles dafür geben wollen. Da unterstützen sich alle. Es ist egal, dass wir am Ende des Tages doch Konkurrenten auf der Bahn sind. In dieser Gruppe unterstützen sich wirklich alle. Wer schon mit seinen Tempoläufen durch ist und noch ein bisschen Leben in sich hat, der nutzt diese Kraft und Energie, um seine Kollegen anzufeuern und um denen auch die Hölle heiß zu machen, damit sie ihre Tempoläufe durchziehen. Das ist schon eine sehr besondere Atmosphäre, so arbeiten zu können und zu dürfen.
SPORT1: Sind die Tempoläufe wirklich so schlimm?
Lückenkemper: Teilweise sind die echt böse (lacht). Aber deswegen bin ich auch da, um solche Einheiten mal reinzukriegen. Manchmal macht sich unser Coach einen Spaß daraus, wenn nach dem letzten Lauf alle auf der Bahn liegen und sich nicht mehr bewegen können. Wenn es zu lange dauert, bis wir aufstehen, schnappt er sich ein Stück Kreide und malt damit wie beim Tatort unsere Umrisse auf die Bahn. Die nennt er dann den "Todesengel". Dann sieht man teilweise bis zum nächsten Regen mehrere komische Umrisse auf der Bahn.
SPORT1: Einen guten Humor hat er also!
Lückenkemper: Auf jeden Fall. Aber das ist auch genau das, was man dann braucht. Er geht hervorragend mit dieser Ausnahmesituation um, wenn die Athleten nicht mehr können. Dann kann man da auch drüber lachen. Oder man setzt sich als Ziel, dass es heute keine Kreideumrisse von einem selbst geben wird – und versucht irgendwie aufzustehen, wenn er wieder seine Kreide holt. Aber das Schöne ist, dass sich die Athleten gegenseitig beim Aufstehen helfen. Teamwork wird wirklich großgeschrieben.
SPORT1: Spielte es in Ihren Überlegungen eine Rolle, dass Brauman aufgrund seiner Vergangenheit nicht den besten Ruf hat? Er musste 2006 sogar für zehn Monateins Gefängnis.
Lückenkemper: Das war mir an der Stelle egal, weil Lance keine Doping-Vergangenheit hat. Das war für mich das Wichtige. Lance weiß, dass er damals einen Fehler gemacht hat, als er die Gelder an seiner Highschool einem seiner Athleten zukommen ließ. Er ist sich dieser Sache sehr bewusst, dass er falsch gehandelt hat und so kommuniziert er das auch an seine Athleten. Wenn man ihn kennen gelernt hat, weiß man, dass er ein sehr reflektierter Mensch ist.
SPORT1: Hatten Sie bei Ihrem Wechsel in die USA auch ein bisschen auf die Erfolge von Konstanze Klosterhalfen geschaut, die schon 2018 in die USA ging und seitdem große Fortschritte gemacht hat?
Lückenkemper: Nein, das hatte damit nichts zu tun.
Angst wegen Corona-Virus? "Ich sehe es ein bisschen kritisch"
SPORT1: Wie sehen Sie sich auf dem Weg nach Tokio? Können Sie einschätzen, ob das harte Training schon angeschlagen hat?
Lückenkemper: Es ist schwierig, jetzt schon einen Vergleich zu ziehen, aber ich würde sagen, dass ich aktuell so fit bin wie zu diesem Zeitpunkt noch nie. Außer vielleicht 2017, als ich die komplette Hallensaison bestritten habe. Damals war ich annähernd so unterwegs wie jetzt. Aber ich glaube, dass es von der Grundfitness etwas komplett anderes ist als in den vergangenen Jahren.
SPORT1: Was ist bis zu den Olympischen Spielen noch geplant? Wie oft gehen Sie bis dahin zurück in die USA?
Lückenkemper: Es wird noch einen Block in den USA geben, der sieben Wochen lang dauert – von Ende März bis Anfang Mai. Danach startet ja schon die Freiluftsaison mit den Deutschen Meisterschaften Anfang Juni. Wir haben das große Glück, dass wir über den Sommer hinweg viele Wettkämpfe in Europa haben. Sobald die US-Trials vorbei sind, kommt meine Trainingsgruppe nach Amsterdam, dann habe ich es nicht so weit.
SPORT1: Haben Sie eigentlich Angst, dass das Corona-Virus Olympia gefährden könnte?
Lückenkemper: Ich glaube, dass es dafür noch zu früh ist, eine Prognose abzugeben. Da müssen wir mindestens noch einen Monat warten. Klar handelt es sich um eine hoch ansteckende Krankheit – aber wenn man sich anschaut, wie viele Menschen an der Grippe sterben… Ich sehe es ein bisschen kritisch, aber natürlich ist die Sorge einer Ansteckung berechtigt.