Es war der zweite große Personal-Coup des WWE-Rivalen innerhalb von weniger als zwei Wochen - aber auch die zweite Steilvorlage für die Kritiker von AEW.
Was die Kritiker von AEW übersehen
Nach Paul Wight, dem ehemaligen Big Show, hat die Wrestling-Promotion von Milliardärssohn Tony Khan auch Christian Cage an Land gezogen, den eben erst bei WWE in den Ring zurückgekehrten Weggefährten von Edge.
Eine weitere spektakuläre Verpflichtung - aber auch ein weiterer Mann, der seinen Ruhm anderswo erworben hat und mit inzwischen auch schon 47 Jahren kein Mann der Zukunft mehr ist. Wie Wight (49). Wie der im Dezember gewechselte Sting (bald 62). Wie auch Chris Jericho (50), der erste prominente Überläufer.
Ist AEW nur eine Resterampe für Altstars, die WWE nicht mehr braucht? Macht die Liga dieselben Fehler wie die früheren Konkurrenten WCW und TNA (Impact)? Es sind Vorwürfe, die in sozialen Medien kursieren.
Ein genauerer Blick offenbart jedoch: Die Vorwürfe werden AEW nicht gerecht.
Chris Jericho und Sting helfen bei AEW Talenten
Seit der Formation der Liga Anfang 2019 ist zu beobachten, dass Khan und sein Mitgründer-Quartett Cody Rhodes, Kenny Omega und die Young Bucks (Nick und Matt Jackson) einen klaren Plan verfolgen. Dass Ex-WWEler und andere Altstars darin nicht vorkämen, haben sie nie behauptet - aber der Plan sieht auch nicht vor, sich allein auf deren Prominenz zu verlassen (Cody Rhodes im SPORT1-Interview: Das ist die Vision hinter AEW).
Die AEW-Verantwortlichen bauen seit zwei Jahren konsequent neue Stars auf und es sind gerade auch die Legenden, die an vorderster Front daran beteiligt sind: Jericho etwas hat sich stark verdient gemacht bei der Förderung von Sammy Guevara, Orange Cassidy und aktuell in seiner sich entfaltenden Langzeitstory mit dem 24 Jahre alten MJF (Maxwell Jacob Friedman), der mit seinem Charisma womöglich die Zukunftshoffnung schlechthin ist.
Auch Sting wurde schnell in ein Entwicklungsprojekt gesteckt, er bildet eine Partnerschaft mit dem 28 Jahre alten Darby Allin - dem Mann, den AEW Stand jetzt am erfolgreichsten als Hausmarke etabliert hat.
Die Art und Weise, wie AEW Jericho und Sting einsetzt, ist eine andere, als es WWE etwa mit dem aus derselben Generation stammenden Bill Goldberg tut: Bei dessen Comeback standen Duelle gegen schon etablierte Topstars wie Brock Lesnar, den Undertaker und Roman Reigns (das dann kurzfristig platzte) im Mittelpunkt. Andere, weniger gefestigte Main-Event-Hoffnungen wie Kevin Owens oder auch The Fiend (Bray Wyatt) durfte er auf dem Weg dorthin klar besiegen und warf sie damit zurück, statt sie zu fördern.
WWE setzt auf Hierarchie, AEW auf Vielfalt
WWE wirkt stark geprägt von einer Vorstellung, dass ein kleiner, erlesener Kreis von Topstars, der bestimmte Kriterien erfüllt, klar über dem Rest des Kaders steht - bei AEW sind die Hierarchien wesentlich flacher.
In den 20 Monaten der Kreation des AEW World Titles im August 2019 gab es drei Champions - Jericho, Jon Moxley und Omega - und 16 Matches um den Gürtel, das Herausforderfeld war groß und bunt.
Allin, MJF, Hangman Page, Scorpio Sky, Jake Hager, Brian Cage, Rey Fenix, Eddie Kingston, The Butcher, Lance Archer, der mittlerweile tragisch verstorbene Brodie Lee: Alle bekamen viel Zeit und Raum, ihre jeweiligen Stärken zu zeigen. Jeder wurde auf Augenhöhe mit den prominenteren Gegner präsentiert, keiner war Kanonenfutter wie Owens oder Wyatt für Goldberg oder Ricochet und selbst Ex-Champion Kofi Kingston für Lesnar.
AEW setzt auf eine Philosophie der Vielfalt - und scheint auch sehr darauf bedacht zu sein, die Fehler der früheren WWE-Konkurrenten zu vermeiden.
WCW und TNA verschliefen den Übergang
Sowohl bei WCW als auch bei TNA mangelte es nie an jungen, hungrigen Wrestlern, aber es mangelte am Mut, sie mit mehr Konsequenz in den Vordergrund zu rücken.
Bei WCW sorgten prominente Überläufer wie Hulk Hogan, Randy Savage, Kevin Nash, Scott Hall und Lex Luger in den Neunzigern zwar dafür, dass die Promotion die damalige WWF zwischenzeitlich überholte. Den Übergang zur neuen Generation mit Talenten wie Jericho, Chris Benoit und Eddie Guerrero aber verschleppte man so lang, bis diese frustriert abwanderten.
Auch TNA (inzwischen eine Art Juniorpartner von AEW) teilte die Main Events zu lang und zu stark unter Ex-WWElern und WCWlern wie Sting, Cage, Jeff Jarrett, Kurt Angle und später Jeff Hardy und Mr. Anderson auf. Die Ausnahmeerscheinungen AJ Styles und Samoa Joe waren auf Dauer zu wenig.
WWE nutzt riesiegen Talentpool nicht aus
Dieser Mangel an Durchlässigkeit zwischen etablierten und aufstrebenden Stars ist bei AEW nicht zu bemerken, bei WWE viel eher: Dort ist seit dem Main-Event-Aufstieg des Trios Roman Reigns, Seth Rollins und Dean Ambrose (dem jetzigen Moxley) Mitte des vergangenen Jahrzehnts wenig passiert in der Hinsicht, trotz eines riesigen Talentpools, aus dem WWE schöpfen kann.
Drew McIntyre (35) war zuletzt der einzige Akteur unter 40, der sich dauerhaft und unumstritten in der World-Title-Szene festgebissen zu haben scheint. Bobby Lashley, der frisch gekürte neue Champ, wird in diesem Jahr 45.
Zahlreiche andere Wrestler mit Potenzial wurden von WWE-Boss Vince McMahon schnell wieder fallen gelassen (Finn Balor, Ricochet, Kingston, Aleister Black) oder verweilen seit Jahren im Drittkader NXT (Johnny Gargano, Adam Cole) - aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen. Bezeichnend war zuletzt, dass von den 30 Royal-Rumble-Teilnehmern 16 über 40 waren und nur zwei unter 30.
Klare Erwartungen der Fans an Christian Cage und Paul Wight
AEW hat seine Main-Event-Szene zuletzt wesentlich offener gestaltet, die Altstars helfen nicht nur einzelnen "Chosen Ones" wie Reigns und McIntyre, sondern allen.
Bei der Fanbase hat das mittlerweile auch die klare Erwartung geschürt, dass jede der neu verpflichteten Legenden sich genauso um die Nachwuchsförderung verdient macht wie alle anderen.
Und es wäre überraschend, wenn die nie als Ego-Shooter aufgefallenen Wight und Cage da aus der Reihe tanzten.