Es ist der größte kreative Schachzug seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten: Die Wrestling-Liga WWE ist dabei, ihren frisch zurückgekehrten Topstar Roman Reigns zum Bösewicht zu machen.
WWE-Sensation mit Risiken
In einem überraschenden Cliffhanger am Ende der TV-Show Friday Night SmackDown war zu sehen, wie Paul Heyman an der Seite des "Big Dog" auftauchte, das langjährige Sprachrohr von Brock Lesnar und bei WWE als fieser Strippenzieher inszeniert. Zwei Tage darauf unterstrich Reigns seine neue Einstellung mit der Art und Weise, in der er bei Payback den Universal Title gegen The Fiend und Braun Strowman gewann.
Schon vorher berichtete der gewöhnlich gut informierte Pro Wrestling Insider, dass Reigns mit der Horror-Figur The Fiend alias Bray Wyatt die Rollen tauschen wird. Der Fiend soll nun anstelle von Reigns das "Babyface", der neue Publikumsliebling werden. Er tritt damit in die Fußstapfen des Undertaker, der seine Karriere in diesem Jahr wohl endgültig beendet hat.
Es ist eine sensationelle Volte von großer Tragweite, vergleichbar mit dem Wandel von Hulk Hogan bei WCW 1996, dem Doppel-Turn von Bret "The Hitman" Hart und Stone Cold Steve Austin bei WWE im Jahr darauf, dem Verrat von Stone Cold an The Rock bei WrestleMania X-7 vier Jahre später.
Seit vielen Jahren ist WWE kein solches Wagnis mehr eingegangen, obwohl es viele Fans oft gefordert hatten - bei Reigns und in den Jahren zuvor auch bei John Cena, seinem Vorgänger als WWE-Aushängeschild. Warum schwenkt WWE nun plötzlich um, welche Chancen bieten sich und welche Risiken sind mit dem Schritt verbunden? SPORT1 ordnet ein.
Roman Reigns in ähnlicher Lage wie John Cena
Seit 2014 wurde der 35 Jahre alte Reigns, über eine Blutsbrüderschaft quasi-familiär mit dem früheren Idol Dwayne "The Rock" Johnson verbunden, zum Aushängeschild von WWE aufgebaut, stieg im Jahr darauf erstmals zum Champion auf, beerbte den sich in Richtung Hollywood orientierenden John Cena als Gesicht der Liga, mit großen Sieg über Stars wie Triple H, den Undertaker und auch Cena selbst.
Ähnlich wie auch bei Cena stieß Reigns' Push nach oben auf den Widerstand vor allem vieler eingefleischter WWE-Fans: Reigns wurde bei großen Shows oft ausgebuht, galt als zu offensichtlicher Liebling der Chefetage um WWE-Boss Vince McMahon. Wie auch bei Cena ließ sich WWE davon aber nicht beirren: Reigns hatte seine Fans, gerade auch junge und weibliche, verkaufte viel Merchandise - und für Stimmung sorgten seine Gegner ja auch.
Und als Reigns 2018 einen Schicksalsschlag erlitt, an Leukämie erkrankte und seinen Universal-Titel niederlegen musste, gewann er durch den menschlich beeindruckenden Umgang damit auch den Respekt vieler Kritiker, als er im Jahr darauf zurückkam. Infolge der Corona-Pandemie folgte jedoch der nächste Rückschlag: Als Risikopatient zog sich der fünffache Familienvater Ende März wieder aus dem WWE-Geschehen zurück, sagte sein geplantes WrestleMania-Match gegen Bill Goldberg kurzfristig ab, war fünf Monate nicht zu sehen.
Durch die inzwischen verschärften Sicherheits- und Hygienemaßnahmen durch umfangreiche Tests und Maskenpflicht außerhalb des Rings öffneten Reigns die Tür zum Comeback, das beim SummerSlam am vergangenen Sonntag mit einer Attacke nach dem Titelkampf zwischen dem Fiend und Strowman erfolgte. Der Charakterwandel verleiht der Rückkehr nun eine neue Ebene.
WWE wegen Quotenkrise unter Druck
Obwohl Cena lange in einer ähnlichen Lage wie Reigns war, hat WWE seinen Charakter nie verändert - wofür es auch Gründe gibt: Immer wieder war zu beobachten, dass bei Turns die Merchandise-Verkäufe der Stars einbrachen. Noch immer lassen sich viele Wrestling-Fans, gerade Kinder und Jugendliche, von der offiziellen Charakterzeichnung in ihrer Sympathie beeinflussen. Und Cena hat WWE so viel Geld eingebracht, dass die Liga nie riskieren wollte zu reparieren, was aus ihrer Sicht nicht kaputt war.
Bei Reigns ist die Lage an sich ähnlich, wobei seine kommerzielle Zugkraft nicht die Dimension von Cena auf dessen Höhepunkt erreicht. Der entscheidende Unterschied:WWE ist heute durch lukrative TV-Rekordverträge finanziell abgesichert wie nie zuvor - zugleich aber unter gewaltigem Druck, besagte Verträge zu rechtfertigen: Die ohnehin seit Jahren fallenden Einschaltquoten von RAW und SmackDown sind in der Coronakrise nochmal massiv eingebrochen, in der jüngsten Investorenkonferenz wurde McMahon dafür regelrecht gegrillt - auch, weil der aufstrebende Konkurrent AEW (auf niedrigerem Niveau) weniger unter den Corona-Folgen leidet.
Durch den SummerSlam-Hype und den Umzug in den optisch spektakulären "Thunderdome" im Amway Center in Orlando gab es zuletzt zwar wieder bessere Ratings - SmackDown passierte am Freitag zum zweiten Mal in Folge die zuletzt ständig verfehlte 2-Millionen-Marke -, aber WWE kann sich nicht darauf verlassen, dass der Trend anhält: Die NFL-Saison naht, die die Liga stets Zuschauer kostet. Um weitere Horror-Nachrichten zu vermeiden, muss WWE den Fans etwas bieten, was der Anlass sein dürfte, dass sie Reigns nun neu erfindet.
Reigns als Heel bietet WWE nun viele neue Optionen für kommende Storys, weit über den Herbst hinaus. Unter den neuen Vorzeichen bekommen alle denkbaren Fehden für Reigns neue Frische. Im kommenden Jahr könnte Reigns zum Beispiel auch unter den neuen Vorzeichen die Fehde mit dem dann wieder verfügbaren Goldberg nachholen, auch ein All-Star-Duell mit dem um WrestleMania immer wieder zurückkehrenden Cena wäre eine interessante Möglichkeit. Denkbar ist auch eine Verknüpfung von Reigns' Turn mit der Rätselstory um die maskierte Gruppierung Retribution oder auch eine böse Reunion mit dem alten Shield-Partner Seth Rollins.
Nebenbei bekommt auch Heyman - als Kreativdirektor der Montagsshow RAW im Juni ausgebootet - neue Beschäftigung und wieder mehr Gelegenheit, seine glänzenden Fähigkeiten am Mikrofon zu präsentieren (Warum ein WWE-Topstar stinksauer auf Paul Heyman ist).
The Fiend auf den Spuren des Undertaker
Viel neues Story-Potenzial bietet sich auch für den Fiend, der als Publikumsliebling nur auf den ersten Blick fehlbesetzt wirkt: Letztlich geht sein übernatürlicher Mystery-Charakter denselben Weg wie der des Undertakers zu Beginn der Neunziger.
Auch der war ursprünglich als böses Monster und Hogan-Rivale konzipiert, aber er faszinierte die Fans so, dass die Verwandlung zum Liebling unumgänglich wurde - und auf Jahrzehnte hinaus überaus erfolgreich.
Im Fiend, der spannendsten Charakterschöpfung der vergangenen WWE-Jahre - dessen Merchandise-Artikel übrigens auch hoch im Kurs stehen - steckt ähnliches Potenzial. Zumal auch wegen des Einfallsreichtums des 33 Jahre alten Wyatt, der hinter den Kulissen viele Ideen einbringt, die seinen Charakter weniger abhängig von den Launen des Kreativteams macht.
Hulk Hogan als Vorbild - Steve Austin als Warnung
Nicht zu vergessen ist aber auch, dass Reigns' Wandel auch seine Schattenseiten hat: Dass Cena sich immer treu geblieben war, verlieh ihm einen besonderen Nimbus, der ihn über andere Stars erhob und den Reigns nun verliert - auch Hogans großer Turn 1996 funktionierte nur deshalb so gut, weil er ein Bruch nach über zehn Jahren in der vorherigen Rolle war.
Von Superstar Austin erhoffte sich WWE 2001 einen ähnlichen Effekt, als er sich bei WrestleMania X-7 mit einem Stuhlschlag-Trommelfeuer gegen The Rock wandte (das Reigns mit seinen Hieben gegen Strowman beim SummerSlam zu zitieren schien) und sich mit seinem Erzrivalen McMahon verbrüderte.
Doch obwohl Austin ein enorm unterhaltsamer Schurke war, entfaltete er in der Rolle nicht die erhoffte Wucht. Zudem schadete ihm, dass sein Charakter danach noch mehrmals hin- und hergedreht und dadurch verwässert wurde, ehe er 2003 wegen einer schweren Nackenverletzung aufhören musste. Im Nachhinein gilt Austins Turn als unfreiwilliges Ende der von ihm geprägten Attitude Era.
Wie brutal ein auf dem Papier vielversprechender Heel Turn floppen kann, offenbarte zuletzt auch der von Reigns' Ex-Partner Dean Ambrose (Jon Moxley), dessen fragwürdige Inszenierung Ambrose letztlich sogar aus der Liga vergraulte und zu AEW trieb.
Bei Reigns, dessen Band zu WWE fester geknüpft wirkt, ist letzteres unwahrscheinlich. Trotzdem ist der WWE-Hang zur Sprunghaftigkeit nun auch für ihn die große Gefahr: Wenn die Ligabosse im kommenden oder übernächsten Jahr zum Schluss kommen, dass er doch wieder als Guter gebraucht wird, wird er geschwächt und nicht gestärkt sein.