Stell dir vor, du erlebst den größten Moment deiner beruflichen Laufbahn, einen Moment auf den du fast 20 Jahre hingearbeitet hast. Und keiner geht hin.
WWE-Durchbruch mit Beigeschmack
WWE-Star Drew McIntyre musste genau diese bittere Erfahrung soeben machen: Er durfte bei WrestleMania 36 den Hauptkampf der größten Wrestling-Show der Welt gewinnen, den langjährigen Topstar Brock Lesnar entthronen, sich erstmals zum Champion und neuen Aushängeschild der Promotion krönen.
Ein einmaliges Erlebnis, das eigentlich über 65.000 Fans im Football-Stadion von Tampa bejubeln sollten. Stattdessen beklatschten es eine Handvoll Mitarbeiter im WWE-Trainingszentrum in Orlando.
Die Corona-Pandemie hat den lang ersehnten Karriere-Höhepunkt des 34-Jährigen auf schmerzhafte Weise geschmälert. Wie geht ein Mann, der in normalen Zeiten davon lebt, ein großes Live-Publikum zu begeistern, mit diesem Beigeschmack um?
Drew McIntyre will nicht über Corona-Folgen jammern
"Ich bin sehr glücklich und stolz, dass WWE sich in diesen schwierigen Zeiten bemüht, den Menschen Unterhaltung zu bieten und dass ich etwas Freude schenken kann. Das ist auch etwas Besonderes", sagt McIntyre zu SPORT1 - in einem Mediengespräch, das nach der Aufzeichnung und vor der Austrahlung der Geister-WrestleMania am Wochenende geführt wurde.
"Es ist immer noch mein großes Titelmatch, das Match, auf das ich mein ganzes Leben gewartet habe", ergänzt der 1,96-Meter-Mann, der als erster britischer WWE-Champion der Geschichte unter anderem auch den eben erst posthum in die Hall of Fame berufenen "British Bulldog" Davey Boy Smith übertroffen hat.
McIntyre will nicht jammern, das ist zu merken. Nur andeutungsweise lässt er durchblicken, dass er sich sein großes Match natürlich etwas anders vorgestellt und gewünscht hätte: "Die Umstände sind nicht ideal, ganz offensichtlich." Es sei aber nicht die rechte Zeit, "jetzt an mich selbst zu denken und mich darüber zu ärgern, dass mir die Fans nicht vor Ort zujubeln können".
Der "Scottish Psychopath", der mit einer jungen Medizinerin verheitatet ist, weiß, dass in der wirklichen Welt Millionen Menschen gerade ganz andere Probleme haben als er.
Wer allerdings vertraut ist mit der kleinen Wrestling-Welt und McIntyres Lebensweg, wird wissen: Da ist schon jemandem etwas vom verdienten Lohn weggenommen worden, für den er viele Jahre hart gearbeitet hat.
Bret Hart, Triple H und Undertaker als Vorbilder
Andrew "Drew" Galloway, wie der am 6. Juni 1985 im südwestschottischen Ayr geborene Hüne bürgerlich heißt, verfolgt seinen Lebenstraum als Wrestler, seit er 15 Jahre alt ist.
Als 22-Jähriger wurde Galloway, der nebenbei ein Studium der Kriminologie in Glasgow abschloss, von WWE entdeckt und gab ihm die Chance, seinem Idol Bret "The Hitman" Hart sowie Triple H, Shawn Michaels, dem Undertaker und Fit Finlay, die er bei SPORT1 als weitere Vorbilder nannte.
McIntyre wurde mit großen Vorschusslorbeeren bedacht und inszeniert als "Chosen One", als von WWE-Boss Vince McMahon protegierter Nachwuchs-Schurke.
Die Karriere des vermeintlich "Auserwählten" hob nicht so ab wie erhofft, nach einigen Jahren war er als Mitglied der Gruppierung 3MB (mit Heath Slater und Jinder Mahal) am unteren Ende der Card angelangt, 2014 entließ ihn WWE. McIntyre aber war entschlossen, das nicht als Ende seines großen Traums zu akzeptieren.
Zweite Chance bei WWE genutzt
McIntyre schloss sich der kleineren Liga Impact Wrestling (TNA) an, tourte durch Independent-Ligen in Nordamerika, Mexiko und Europa (wo er auch Halt bei wXw in Deutschland machte): Er setzte alles daran, ein noch besserer Wrestler zu werden, an seinen Schwächen zu arbeiten, seine Stärken hervorzukehren.
WWE belohnte ihn 2017 mit einem neuen Vertrag - und als er im Jahr darauf sein Hauptkader-Comeback als Partner von Dolph Ziggler bei RAW feierte, war schon zu spüren, dass er auf dem besten Weg war, nun tatsächlich sein Topstar-Potenzial auszuschöpfen. Look, Präsenz, Charisma, Ringhandwerk, Agilität: Der angeblich 120 Kilo schwere McIntyre brachte nun alles mit, was WWE erwartete. Und spätestens sein Aufbau vom Royal-Rumble-Sieger zum WrestleMania-Headliner zeigt, welch große Stücke die Liga mittlerweile auf McIntyre hält.
Brock Lesnar, den Mann, der bei WrestleMania den legendären Undertaker ebenso abfertigte wie Roman Reigns und Bill Goldberg, durfte auf dieser Bühne noch nie jemand gleichzeitig so schnell und so klar besiegen (Seth Rollins' Sieg im Vorjahr wurde durch einen illegalen Tiefschlag herbeigeführt).
WWE-Boss McMahon, sein kreativer Vordenker Paul Heyman und auch Lesnar selber scheinen überzeugt zu sein, dass McIntyre das Zeug zum absoluten Publikumsmagneten hat. Sobald das Publikum wieder zu WWE darf.