Was WrestleMania für WWE ist, ist diese Show für Millionen Fans, die ein etwas anderes Verständnis von der Idee des Wrestling haben.
Dieses Bild muss WWE beunruhigen
Wrestle Kingdom 14, der Jahreshöhepunkt der Liga NJPW, lockte an diesem Wochenende zehntausende Fans aus aller Welt in den Tokyo Dome nach Japan.
Die ehemaligen WWE- und aktuellen AEW-Topstars Chris Jericho und Jon Moxley (ehemals Dean Ambrose), vor allem aber auch die japanischen Ausnahme-Showkämpfer Kazuchika Okada, Tetsuya Naito und Kota Ibushi wurden einmal mehr dem Anspruch gerecht, das qualitativ hochwertigste Wrestling der Welt zu bieten.
In diesem Jahr war die Traditionsshow (bei der sich Legende Jushin Thunder Liger in den Ruhestand verabschiedete) von zusätzlicher Relevanz: Der Co-Main-Event zwischen Jericho und Hiroshi Tanahashi könnte zum Vorboten einer einschneidenden Entwicklung werden, die dem Marktführer WWE Kopfzerbrechen bereiten würde.
SPORT1 war vor Ort in Tokio und erklärt, warum der erstmals auf zwei Tage ausgedehnte Wrestling-Wahnsinn in Fernost in diesem Jahr weitreichende Konsequenzen für die weltweite Showkampf-Landschaft haben könnte.
Ein Wrestling-Erlebnis der anderen Art
Der Tokyo Dome – Heimatarena des Baseball-Teams Yomiuri Giants – ist seit 1992 Schauplatz der wichtigsten Veranstaltung von New Japan Pro Wrestling. Im Lauf der Jahrzehnte waren dort auch zahlreiche internationale Topstars wie Hulk Hogan, Sting, Brock Lesnar und AJ Styles angetreten, in den vergangenen Jahren hat eine verstärkte englischsprachige Vermarktung die Show auch bei den Fans außerhalb Japans verstärkt in den Fokus gerückt.
Wrestle Kingdom, wie die Veranstaltung seit 2007 heißt, hat einerseits viele Parallelen zu WrestleMania, aber auch viele Unterschiede. Wer im Gewusel der 9,5-Millionen-Metropole auf wild feiernde Fans mit Plakaten wartete, wurde enttäuscht: Solche Szenen passen weder in die japanische Kultur, noch in die stark davon beeinflusste Wrestling-Szene des Landes.
Die für WWE- und andere US-Shows typischen Sprechchöre gibt es in Japan genauso wenig wie das Rebellieren gegen polarisierende Stars, wie es John Cena und Roman Reigns viele Jahre lang bei WWE erlebt hatten. Jedem Wrestler wird mit Applaus und einem hohen Maß an Respekt begegnet. Buhrufe gibt es nur, wenn die Inszenierung der Charaktere es darauf anlegt.
Die Fans in Japan sehen Wrestling nicht als Party-Event, sondern als absolut ernstzunehmende sportliche Darbietung.
Die Fans beobachten die körperbetonten, vom realitätsnahen "Strong Style" geprägten Matches intensiv und meist ruhig dabei. Nur bei besonders heftigen Aktionen geht ein größeres Raunen durch die Menge, die Stimmung wandelt sich erst in der heißen Phase der oft 30- bis 40-minütigen Matches, wenn die Fans ihre Anspannung nicht mehr in Zaum halten können.
Für die internationalen Zuschauer ist diese Atmosphäre oft ein Kulturschock, aber sie ist umso spezieller, wenn die Fans dann auch ein Match und eine Story geboten bekommen, die ihren hohen Ansprüchen gerecht wird - so wie am Ende des Showwochenendes der lang aufgebaute Doppel-Titelgewinn von Tetsuya Naito und die anschließende Attacke von Oberbösewicht KENTA.
Chris Jericho setzt AEW in Szene
Was aus internationaler Sicht für noch größeres Aufsehen sorgte: die Rolle, die die Stars des Anfang 2019 formierten WWE-Rivalen All Elite Wrestling (AEW) in Tokio spielten (Exklusiv-Interview: Hier erklärt AEW-Geschäftsführer Cody Rhodes seine Vision).
Die beiden früheren WWE-Champions sorgten für absolut euphorische Reaktionen und wurden auch als große Gewinner dargestellt: Moxley holte sich von Lance Archer den US Title der Liga zurück und verteidigte ihn gegen Juice Robinson, worauf ein großer Showdown mit NJPW-Veteran Minoru Suzuki folgte.
Altmeister Jericho - der es genial verstand, das Publikum gegen sich aufzubringen - durfte Hiroshi Tanahashi, das langjährige Aushängeschild von NJPW, klar durch Aufgabe besiegen.
Für besonderes Aufhorchen sorgte dabei, dass Jericho mit seinem AEW World Title zum Ring kam und Tanahashi im Fall eines Sieges auch ein Titelmatch in Aussicht stellte.
Finden die Rivalen von WWE zueinander?
Szenekenner registrierten das aufmerksam, denn bis jetzt sieht die NJPW AEW als Konkurrenten, nicht als Partner. Mehr noch: Das Verhältnis der beiden Ligen gilt als vergiftet.
Der gut informierte Wrestling Observer berichtet, dass es vor allem von NJPW aus jede Menge böses Blut hinter den Kulissen gibt, Klagedrohungen inklusive. Die Japan-Liga scheint es den vorher bei ihnen aktiven AEW-Stars und -Geschäftsführern Cody Rhodes, Kenny Omega und den Young Bucks (Nick und Matt Jackson) übel genommen zu haben, dass sie eigene Wege gegangen sind und NJPW damit vor allem international schwächten.
Dabei würde es für NJPW aus vielen Gründen Sinn ergeben, ihr Verhältnis zu AEW zu überdenken: Ihr aktueller US-Partner ROH (Ring of Honor) steckt in einer Krise, ihr US-TV-Deal mit hat sich nach dem Kauf des Senders AXS durch die Mutterfirma der Liga Impact (ehemals TNA) inzwischen endgültig zerschlagen.
Eine Zusammenarbeit mit AEW (so wie einst zwischen NJPW und dem früheren WWE-Rivalen WCW) würde beide Seiten neue Möglichkeiten eröffnen: New Japan – das vor kurzem auch die US-Tochterliga NJPW of America formiert hat - könnte ihre Stars auf den internationalen Märkten besser präsentieren, AEW würde durch den Zugriff auf zahlreiche anerkannte Top-Wrestler als WWE-Konkurrent weiter gestärkt.
NJPW rührt an "verbotenem Portal"
Bis NJPW und AEW an diesen Punkt kommen, ist aber noch ein weiter Weg zurückzulegen: Dem Observer zufolge haben Tanahashi und Jericho (dessen Vertrag mit AEW ihm die Japan-Ausflüge gestattet) die Story mit dem Titel in Eigenregie ausgeheckt, die Initiative ging also nicht von den Ligachefs aus.
AEW-Chef Tony Khan hat zwar abgesegnet, dass der Titel bei NJPW auftauchen darf, seine eigene Promotion hat das auf ihren Kanälen allerdings nicht thematisiert - ein Zeichen, dass speziell AEW die Sache mit großer Vorsicht behandelt.
Da Tanahashi letztlich auch einwilligte, sich von "Le Champion" klar schlagen zu lassen, lief die Story um den AEW-Titel aber erstmal auch ins Leere. Das "verbotene Portal", von dem die NJPW-Kommentatoren sprachen, bleibt vorerst geschlossen.
Nichtsdestotrotz könnte das Match ein erster Schritt gewesen sein, dass Jerichos und Tanahashis Bosse sich an einen Tisch setzen und daran arbeiten, ihre Konflikte beizulegen. Bei einer Pressekonferenz nach seinem Match legte Jericho ihnen genau das auch nahe: "Die verbotene Tür ist zu, aber ich finde nicht, dass sie zu sein muss. Lasst die verletzten Gefühle und Egos hinter euch."
Dass beide Seiten etwas von einer Zusammenarbeit hätten, hat das spektakuläre und für NJPW wie AEW fruchtbare Tokyo-Dome-Wochenende eindrucksvoll untermauert.