Schwer gezeichnet, mit geschwollenem Gesicht und blutunterlaufenen Augen erschien der entthronte Box-Weltmeister Wladimir Klitschko in der Nacht der Niederlage am 28. November 2015 auf der Pressekonferenz im Bauch des Düsseldorfer Fußball-Stadions.
Als Furys Chaos Klitschko stürzte
Erschöpft und enttäuscht wirkte er nach seiner überraschend klaren Punktniederlage gegen den Briten Tyson Fury, die ihn die Titel der Verbände WBA, WBO und IBF gekostet hatte – vor allem aber wirkte er ratlos.
Fury „schockiert die Welt"
„Tyson Fury besiegt Wladimir Klitschko: Brite schockiert die Welt“, titelte The Independent. Auch die BBC analysierte: „Fury schockiert die Boxwelt. Er war in einem biestigen, teilweise chaotischen Kampf einfach der Bessere.“
Und die Süddeutsche Zeitung brachte es auf den Punkt: „Klitschko wollte eine Herausforderung, Klitschko bekam eine. Er blutete heftig, wirkte völlig ratlos – und verlor verdient.“
Wie konnte ihm das nur passieren? Ihm, dem bis dahin seit über elfeinhalb Jahren ungeschlagenen Champion, dem unangefochtenen König des internationalen Schwergewichts. Klitschko wusste es selbst nicht.
Wladimir Klitschko: Sein Gefühl trog
„Ich hatte mich eigentlich gut vorbereitet gefühlt“, eröffnete der damals 39-Jährige seinen Erklärungsversuch für das, was ihm da knappe zwei Stunden zuvor im Ring widerfahren war. „In der ersten Hälfte des Kampfes habe ich mich noch recht sicher gefühlt“, sagte er, fügte dann aber hinzu: „Als der Kampf vorbei war, hatte ich gleich das Gefühl, dass ich es diesmal nicht geschafft habe.“
Ein Gefühl, das sich für ihn „durchaus außergewöhnlich“ anfühlte, wie Klitschko unumwunden zugab. Immerhin hatten ihn seit seiner bis dato letzten Niederlage gegen den US-Amerikaner Lamon Brewster im April 2004 ja auch nur eine Handvoll Gegner gefordert.
Fury setzte auf mehr als nur Worte
Doch gegen Fury lief von Anfang an alles anders. Selten zuvor hatte ein Herausforderer Klitschkos Trash-Talk so auf die Spitze getrieben wie der Brite. Ob mit Weltuntergangstheorien, einer Showeinlage als Batman, einem umgedichteten Bette-Midler-Lied oder zu guter Letzt noch einem Protest gegen den angeblich zu weichen Ringboden: Fury versuchte den Titelverteidiger zu verwirren, wo er nur konnte. Und es gelang ihm.
Er setzte aber auf mehr als Worte: Laut der Daily Mail wettete er vor dem Kampf 200.000 Pfund auf sich selbst – eine Wette, die sich verdoppelte.
Selten erlebte man den technisch und taktisch hoch veranlagten Klitschko derart uninspiriert wie gegen Fury. Vom ersten Gong an versuchte der 1,98-Meter-Mann gegen den noch einmal acht Zentimeter größeren Riesen von der Insel, irgendwie in den Kampf zu finden. Doch er schaffte es nicht.
Vitali Klitschko kritisierte seinen Bruder scharf
„Er hatte keine gute Kondition, er hatte keine gute Technik, insgesamt war wenig von ihm zu sehen“, kritisierte Wladimirs älterer Bruder Vitali.
Stattdessen gab Fury den Ton an – und das schon fast aufreizend lässig. Wie zuvor angekündigt, war der Brite von Anfang darauf aus, „Chaos zu stiften“ und seinen Rivalen zu irritieren. Der „Gypsy King“ tänzelte. Er wechselte permanent zwischen Links- und Rechtsauslage. Er boxte fast durchgehend ohne echte Deckung. Er provozierte. Er führte Klitschko vor.
„Vielleicht hat er mich häufiger getroffen, aber ich habe den Kampf dominiert“, analysierte Fury anschließend. „Ich bin nicht richtig in die Distanz reingekommen“, gestand auch Klitschko, dessen ansonsten so gefürchtete Rechte diesmal nahezu vollständig wirkungslos blieb. Doch nicht nur die zehn Zentimeter größere Reichweite seines Gegenübers machte „Dr. Steelhammer“ zu schaffen.
Fury überraschend ausdauernd – aber Endspurt kam zu spät
Während der durch seine in der Vorbereitung erlittene Wadenverletzung womöglich noch ein Stück weit gehandicapte Ukrainer selbst ungewöhnlich hölzern und unbeweglich wirkte, überraschte ihn sein Rivale mit erstaunlich guter Beinarbeit und Kondition.
„Er war die ganzen zwölf Runden lang unglaublich schnell“, sagte Klitschko anerkennend. Anerkennen mussten Furys Überlegenheit an diesem Abend auch die rund 45.000 mitunter geradezu entsetzten Zuschauer in Düsseldorf. Von Minute zu Minute sank im Publikum spürbar die Hoffnung auf eine Wende. Fury brach nicht ein, Klitschko drehte nicht auf.
Zumindest in der zwölften und letzten Runde verstärkte der Champion noch mal ein wenig die Offensive, tatsächlich war der Zug zu diesem Zeitpunkt aber schon längst abgefahren. Mit einem haargenau in dieser Form gewollten Chaos, sowohl außerhalb als auch innerhalb des Rings, hatte Fury den König entthront und ratlos zurückgelassen.
Zum Rückkampf kam es nie
Der geschlagene Klitschko konnte die Scharte nie auswetzen: Ein geplanter Rückkampf platzte im Oktober 2016 endgültig, als Fury positiv auf Kokain getestet wurde und seine Titel zurückgab.
Zu „Fury – Klitschko 2“ sollte es nie kommen: Der Brite, der unter einer bipolaren Störung leidet, stand nach seinem großen Sieg fast drei Jahre nicht im Ring, weil er die Folgen psychisch nicht verkraftete: Er verfiel Alkohol, Drogen und Suizidgedanken, geriet völlig außer Form und wog zwischenzeitlich über 180 Kilogramm – ehe er 2018 gegen Deontay Wilder ein zu diesem Zeitpunkt unglaubliches Comeback einleitete.
Klitschko forderte 2017 stattdessen Weltmeister Anthony Joshua heraus und verlor seinen letzten großen Kampf durch technischen K.o. in der 11. Runde – nachdem er zuvor eine weit bessere und würdigere Leistung gezeigt hatte als gegen Fury. Drei Monate später beendete er seine Karriere.
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Mit Sport-Informations-Dienst (SID)