Zum ersten Mal ist die Welt von Vitali Klitschko in sich zusammengefallen, als er 19 Jahre alt war.
Die bittere Wendung der Klitschko-Story
Aufgewachsen hinter dem Eisernen Vorhang, der im Kalten Krieg die westliche Welt von seiner sowjetischen Heimat trennte, wuchs er im Glauben auf, dass auf der anderen Seite das reine Böse lauerte. (NEWS: Alles zum Boxen)
„Ich musste jeden Morgen in der Schule schlechte Dinge über Amerika schreiben“, erinnerte er sich in der preisgekrönten Doku „Klitschko“ an seine Kindheit in der UdSSR. Umso größer sei im Sommer 1990 der Kulturschock gewesen, als sein Kickboxteam nach der Westöffnung zu einem internationalen Turnier nach Florida reiste - und dort nicht nur die Klassenfeind-Brause Coca Cola ganz lecker fand, sondern auch generell auf ein „tolles Land“ mit „sehr freundlichen Menschen“ traf.
Was folgte, ist Geschichte: Vitali und sein jüngerer Bruder Wladimir bauten sich in der neuen, offenen Welt ein märchenhaft anmutendes Leben auf. Sie wurden Box-Champions, promovierte Sportwissenschaftler, TV-Lieblinge in Deutschland, Stars in Amerika, Volkshelden in der heimischen Ukraine.
Seit dem 24. Februar befinden sie sich nun in einem Krieg, der nicht nur ihre Weltordnung ein weiteres Mal in Frage stellt. (Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf den Sport: Alle News im Liveticker)
Vor allem Vitali Klitschko seit langem politisch aktiv
Der heute 50 Jahre alte Vitali Klitschko und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Wladimir müssten nicht Teil dieses Krieges sein: Ihr sportlicher Ruhm und ihre Popularität hätten ihnen ein reiches und sicheres Leben weit weg von der umkämpften Heimat ermöglicht.
Aber speziell Vitali - seit 2014 Bürgermeister der Hauptstadt Kiew - ist nicht erst seit dem von Wladimir Putins Russland begonnenen Angriffskrieg gegen sein Land bewegt vom Wunsch, sich ebendort ein Vermächtnis aufzubauen, das größer ist als sein sportliches.
„Ich habe den Traum, dass in meiner Stadt eine Straße nach mir benannt wird - und nicht für meine sportlichen Erfolge“, sagte er schon vor vielen Jahren.
Und unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse sieht sich nun auch Wladimir, der eigentlich noch deutlich mehr Wurzeln im westlichen Leben geschlagen hat, in der Verantwortung, seinem Bruder bei der Verteidigung der Heimat beizustehen.
Was hat die beiden an diesen Punkt getrieben?
„Viele haben die Klitschkos anfangs für Russen gehalten“
Bekanntermaßen haben die Klitschkos ihre Profikarriere nach Olympia 1996 in Atlanta von Deutschland aus aufgebaut.
Den „politischen Touch“ der beiden hat jemand, der ihre Laufbahn seit den Anfängen begleitet hatte, anfangs eher nicht wahrgenommen: „Das Einzige, was zu merken war, war ein gewisser Stolz, weil der damalige Bürgermeister von Kiew mit einer kleinen Delegation regelmäßig bei ihren Kämpfen war“, erinnert sich Günter Klein, langjähriger Reporter des Münchner Merkur, im Gespräch mit SPORT1. (Darum gab es zwischen Vitali und Wladimir Klitschko nie ein Duell im Ring)
Für Klein, der schon vor Ort war, als die Klitschkos noch im Circus Krone oder einem kleinen Münchner Filmstudio kämpften, sei die Beobachtung damals auch ein kleines Aha-Erlebnis gewesen: „Viele hier in Deutschland haben die Klitschkos anfangs für Russen gehalten - und was Russland und die Ukraine trennt, das haben ja auch noch länger viele nicht realisiert.“
Überzeugungen reiften auch durch Konflikt mit Vater
Im Fall der Klitschkos ist die Geschichte noch etwas komplizierter: Vitali wurde 1971 im heutigen Kirgisistan geboren, Wladimir im heutigen Kasachstan: Die beiden sind Söhne einer Lehrerin und eines aus der Region Kiew stammenden Luftfahrt-Offiziers, der unter anderem auch bei der Sicherungsmission nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 im Einsatz war.
Vitalis Überzeugungen entwickelten sich auch durch den Konflikt mit seinem systemtreuen Vater Wladimir Rodionowitsch - der dann am Ende aber doch auch selbst einen Teil seines Lebensabends in Florida verbrachte, um dem kalten ukrainischen Winter zu entgehen.
2011 starb der Patriarch der Klitschko-Familie 64-jährig an Lymphdrüsenkrebs, der wohl eine Spätfolge seines Kontakts mit der Tschernobyl-Strahlung war.
Eine gewisse Saat für Vitalis größere Weltoffenheit legte schon eine jugendliche Begeisterung fürs Kickboxen (in der UdSSR als westlicher Sport lange verboten) und Actionhelden wie Arnold Schwarzenegger und Chuck Norris. Auch politisch wurde seine transnationale Prägung zum Leitmotiv - was in diesem Bereich nicht immer nur ein Vorteil war.
„Er wird ein bisschen wie eine Comedy-Figur wahrgenommen“
Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy weist im Gespräch mit SPORT1 darauf hin, dass Vitali Klitschkos politisches Engagement für die Heimat Startschwierigkeiten hatte. Es lag auch daran, weil ihn Zweifel an der Tiefe seiner Verwurzelung in der seit 1991 unabhängigen Ukraine beschäftigten.
Klitschko wurde seine Wahlheimat USA lange vorgehalten und auch, dass er besser Russisch als Ukrainisch sprach. Das Ukrainisch des multilingualen „Dr. Eisenfaust“ sei bis heute nicht perfekt, sagt Trubetskoy.
Wegen seines Kampfes mit der Landessprache „wird er hier schon teilweise auch ein bisschen wie eine Comedy-Figur wahrgenommen“, berichtet der in Sewastopol auf der von Russland annektierten Krim geborene Reporter. Trubetskoy beobachtete Klitschko bis vor kurzem als politischer Korrespondent in Kiew aus unmittelbarer Nähe - ehe er wegen des Krieges aus der Hauptstadt fliehen musste.
Klitschko habe im Jahr 2020 sogar ein Buch mit seinen lustigsten Versprechern und Stilblüten herausgebracht: „Es hat seinem Image auch gutgetan, dass er da seit einiger Zeit weniger ernst auftritt und selbstironischer geworden ist.“ Klitschko hat da womöglich vom nahbar-sympathischen Image vom nun allgegenwärtigen Wolodymyr Selenskyj, dem 2019 zum Präsidenten gewählten Ex-Komiker und -Schauspieler, gelernt.
Klitschkos seit 2004 in politischen Richtungsstreit verstrickt
Vitali Klitschko ist dabei schon weit länger in der Politik: Gemeinsam mit Wladimir engagierte er sich noch zu aktiven Zeiten prominent für die Orange Revolution 2004.
Bei den friedlichen Protesten ging es damals um die von Fälschungsverdacht begleitete Wahl des russlandnahen Präsidenten Viktor Janukowytsch - sie erwirkten eine Wiederholung der Abstimmung, in der am Ende der westorientierte Viktor Juschtschenko gewann, im selben Jahr durch einen mysteriösen Giftanschlag entstellt. Juschtschenko stellte Vitali Klitschko auch als Berater ein.
2006 kandidierte der ältere Klitschko dann auch schon als noch amtierender Weltmeister erstmals als Kiewer Bürgermeister. Er scheiterte in den ersten beiden Wahlanläufen, bewies jedoch Beharrungsvermögen, profilierte sich schließlich vor allem bei den Euromaidan-Protesten 2014 gegen den später doch gewählten und dann schließlich gestürzten Janukowytsch - ein Schlüsselereignis in dem nun kriegerisch eskalierten Konflikt mit Russland.
Klitschkos politisches Wirken ist nicht völlig unumstritten
Der 2014 schließlich gewählte Klitschko setzt sich konsequent für einen Westkurs und Bekämpfung von Korruption und anderen autoritären Tendenzen ein - ganz rosarot wird sein Wirken jedoch nicht gesehen.
Bei den Euromaidan-Protesten zog er Kritik auf sich, weil er dabei aus taktischen Gründen auch die rechtsextreme Swoboda-Partei einspannte. Von Tuscheln begleitet wurde auch ein von Trubetskoy als „dubios“ eingeordneter Deal mit dem Unternehmer und späteren Präsidenten Petro Poroschenko, zu dessen Gunsten er vor seiner Bürgermeisterwahl auf seine eigenen Präsidentschaftsambitionen verzichtete.
Auch bei alltäglicheren Dingen sei Klitschkos Bilanz teilweise „überschaubar“, sagt Trubetskoy: Beispielsweise werde Klitschko angekreidet, dass der U-Bahn-Ausbau in der Drei-Millionen-Einwohnerstadt unter ihm nicht vorangekommen sei.
Wladimir und Vitali leben ein sehr unterschiedliches Leben
Vitali Klitschkos Verhältnis zum politischen Russland ist seit langem kritisch, persönlich ist er dabei selbst noch deutlich mehr als Bruder Wladimir vom Nachbarland geprägt und zwischen Ost- und Westmentalität hin- und hergerissen.
„Vitali war auch in seinem boxerischen Ansatz viel konservativer, ja: sowjetischer als Wladimir“, sagt der journalistische Wegbegleiter Klein: „Die Disziplin, das Strammstehen, der Fokus auf Kondition: Nicht umsonst hat sich Vitali nie von Fritz Sdunek und dessen DDR-Methodik gelöst - während Wladimir mehr Freiheitsdrang hatte und sich in die USA zu Emmanuel Steward orientiert hat. Dieses Laissez-Faire-Leben, das Vitali darin widergespiegelt sah, hat ihm nie ganz gefallen.“
Für Klein liegen zwischen Vitali und Wladimir „eigentlich mehr als nur vier Lebensjahre“, die unterschiedlichen Lebensphilosophien zeigen sich auch im Privaten: Der dreifache Familienvater Vitali ist seit 26 Jahren verheiratet mit der ukrainischen Sängerin und ehemaligem Model Natalia Egorova, Wladimir hat eine uneheliche Tochter mit der US-Schauspielerin Hayden Panettiere, von der er mittlerweile getrennt lebt.
Auch im Leben nach dem Sport verfolgte der 2012 zurückgetretene Vitali mit seinen politischen Ambitionen stets einen klaren Plan, während Wladimir nach seinem letzten Kampf gegen Anthony Joshua 2017 mit diversen unterschiedlichen Geschäfts- und Selbstvermarktungsprojekten eher ein Suchender geblieben war.
Der Krieg führt die Klitschkos wieder eng zusammen
Putins Angriffskrieg auf ihr Heimatland hat die unterschiedlichen Brüder nun wieder eng zusammengeführt: Wladimir steht Vitali nun in Kiew zur Seite bei dessen Ansprachen an die Bevölkerung vor Ort und die internationale Öffentlichkeit.
Zudem hat er sich der ukrainischen Territorialverteidigung angeschlossen und gelobt, im Fall eines russischen Angriffs auf Kiew Leib und Leben zu riskieren und mitzukämpfen.
Wie weit Putin den Krieg noch treiben wird, mit welchen Folgen: Es ist noch längst nicht abzusehen. Trubetskoy kann nur hoffen, in seinem Land bald wieder in Frieden und Freiheit leben zu können. Sollte es so kommen, ist für ihn nicht ganz ausgeschlossen, dass Vitali Klitschko in der Ukraine noch eine größere Rolle spielen könnte.
„So wie ich die Lage einschätze, glaube ich eigentlich nicht, dass er sich seinen Traum von der Präsidentschaft noch erfüllen kann“, sagt er: „Aber andererseits: Er ist ja schon mal unterschätzt worden.“