Erst am Wochenende schuf der Künstler, den sie Kvaradona nennen, sein nächstes Gemälde.
Der neue Künstler des Weltfußballs
In einer Kontersituation bekam Khvicha Kvaratskhelia einen Pass von seinem kongenialen Sturm-Partner Victor Osimhen serviert. Zwischen dem Tor und ihm befanden sich drei Verteidiger und der Torhüter. Doch anstatt auf seine aufrückenden Mitspieler zu warten, setzte der Georgier in Diensten der SSC Neapel zum Tanz an. Zu einem Meisterwerk.
Mit der ersten Schussfinte ließ er die ersten zwei Verteidiger ins Leere laufen. Der dritte Verteidiger setzte zur Grätsche ins Nichts an. Dann der nächste Haken, zwei schnelle Kontakte und umringt von sechs Gegenspielern der punktgenaue Kracher ins Kreuzeck. 1:0 für Napoli. Am Ende triumphierte der Tabellenführer mit 2:0 gegen Atalanta Bergamo.
Die Fans waren unzufrieden mit den Transfers
Vor Beginn der Saison blickten die Anhänger noch skeptisch auf den unbekannten Neuzugang aus Georgien. Knapp Acht Millionen Euro zahlten die Süd-Italiener an Dinamo Batumi für einen 21-jährigen, der sich bis dato nur bei unbekannten Zweitligisten in der Bedeutungslosigkeit auszeichnen konnte.
Im Sommer hatten mit Abwehrchef Kalidou Koulibaly, Mittelfeld-Regisseur Fabian Ruiz und Klub-Ikone Lorenzo Insigne gleich drei Eckpfeiler den Verein verlassen. Und nun sollte der unbekannte und quasi unaussprechliche Khvicha Kvaratskhelia das neue Gesicht der Mannschaft und Stadt werden?
Die unerwartete Wendung
In einer Stadt, in der die Menschen auf der Suche nach Selbstbehauptung, Sehnsucht, um die Heiligsprechung des Vergangenen sind. Es geht für die fußballverrückten Fans um den ersten Scudetto seit 33 Jahren. In den 1980ern hob Diego Armando Maradona mit magischen Aktionen die Mannschaft auf den Thron des italienischen Fußballs.
Und Kvaratskhelia und seine Mitspieler schicken sich an, endlich in die großen Fußstapfen zu treten.
Die SSC Neapel dominiert die Serie A nach belieben und hat bereits 15 Punkte Vorsprung auf den Zweitplatzierten Inter Mailand. Zudem marschiert die Mannschaft von Luciano Spalleti durch die Champions League. In der Gruppe mit dem FC Liverpool, Ajax Amsterdam und den Glasgow Rangers gewann das Team fünf von sechs Spielen und eilte somit zum Gruppensieg.
Im Hinspiel des Achtelfinals war Eintracht Frankfurt mit 0:2 noch gut bedient.
Kvaratskhelia: „Es fühlte sich an wie ein Traum
Und wie schlug sich dabei der anfangs mit Skepsis betrachtete Kvaratskhelia?
Der introvertierte Georgier schlug ein wie eine Bombe. Die Fans der Neapolitaner haben ihn, in Anlehnung an ihren Helden Diego Maradona, Kvaradona getauft. Er avancierte zum absoluten Leistungsträger. In der Serie A gelangen ihm bisher elf Tore und ebenso viele Vorlagen. In der Champions League erzielte er zwei Tore und legte vier weitere für seine Mitspieler auf.
„Der Start war so reibungslos, dass es sich wie ein Traum anfühlte. Irgendwann ganz am Anfang musste ich mich sammeln, mich daran erinnern, dass es kein Traum war, dass es Realität war, und ich musste die Kraft in mir finden, das durchzustehen“, sagte der Georgier zu den New York Times.
Das zeichnet Kvaratskhelia aus
Was zeichnet den Mann mit dem schwierig auszusprechen Namen aus? Was sind die Merkmale, die ihm zu einen der besten Spieler der aktuellen Saison machen?
Kvaratskhelia selbst sieht das Gefühl, dass sein größtes Kapital eine ungezügelte Fantasie ist, als sein größtes Gut: „Diese Freiheit ist mein Markenzeichen. Sie ist etwas, das ich in mir selbst erkenne. Das liegt daran, dass ich liebe, was ich tue. Wenn ich spiele, reißt mich das irgendwie mit.“
Auch die besondere Beziehung zu seinem Trainer hat zu dieser Entwicklung geführt. Bevor er zu Napoli kam, führte er ein langes Telefongespräch mit Luciano Spalletti.
„Kvaratskhelia muss nicht trainiert werden“
Der Trainer versprach ihm keinen Freibrief in der Arbeit gegen den Ball.
„Er hat mir gesagt, was ich für die Mannschaft tun soll. Wir haben viel darüber gesprochen, dass wir uns auf die Defensivarbeit konzentrieren, dass wir Teil des Teams sind und wie wichtig der Teamgeist ist. Das ist es, was für ihn wirklich wichtig ist: der Geist.“
Diese Philosophie passte zu seiner Einstellung: „Man spielt mit dem Herzen, mit Leidenschaft, aber man spielt auch mit dem Verstand. Es ist mehr eine bewusste Sache als alles andere, basierend auf dem, was man im Training gelernt hat, auf den Fehlern, die man vorher gemacht hat, auf den Möglichkeiten, die es gibt.“
Spalletti hat das optimale Umfeld geschaffen, indem sich Freigeister wie Kvaratskhelia entfalten können. Der Italiener ist einer der Vorreiter für radikalen Offensivfußball im traditionell defensiv-geprägten Italien.
Für viele seiner Kollegen unvorstellbar, lässt er seinem Künstler freie Hand: „Kvaratskhelia muss nicht trainiert werden. Seine Unberechenbarkeit erlaubt es ihm, das Gewöhnliche in etwas Außergewöhnliches zu verwandeln. Er ist ein Gewinn für uns. Spieler wie er brauchen keine speziellen Anweisungen, er kann sich den Ball holen, seinen Gegenspieler im eins gegen eins schlagen und einen spielentscheidenden Moment kreieren.“
Verbandspräsident gerät ins Schwärmen
Für Levan Kobiashvili, den Präsidenten des georgischen Fußballverbands, liegt seine Stärke in seiner Unberechenbarkeit: „Es gibt viele Flügelspieler, die technisch begabt und sehr schnell sind.“
„Aber Khvicha bietet etwas ganz anderes. Ich glaube nicht, dass wir schon viele Spieler gesehen haben, die einen so unerbittlichen Angriffsstil haben, die alles mit einer solchen Geschwindigkeit machen, nicht nur in Georgien, sondern in Europa. Alles geschieht durch seine Instinkte. Das ist es, was ihn so aufregend macht.“
Kvaratskhelia weiß mit all den Lobeshymnen gut umzugehen: „Ich bin dankbar für jedes Stück Liebe und Zuneigung, das man mir entgegenbringt. Ich weiß, dass es Lob ist, aber es ist auch Motivation und Inspiration. Es ist eine große Verantwortung. Ich muss in jedem Spiel beweisen, dass ich das tun kann, was ich versprochen habe.“
Das könnte am Mittwoch auch die Eintracht wieder zu spüren bekommen. Den Frankfurtern muss bewusst sein: Sobald Khvicha Kvaratskhelia seine Fußballschuhe schnürt und den Platz betritt, muss die Eintracht Lösungen finden.
Ansonsten droht das nächste Meisterwerk.