Als Matthijs de Ligt am Sonntagvormittag aus seinem Auto ausstieg und sich vor dem Trainingsstart ins J Medical begeben wollte, wurde er von knapp 100 Juventus-Fans mit Sprechchören empfangen.
Juve-Experten: So gut ist de Ligt
„Resta da noi“ (Bleib‘ bei uns), riefen die Anhänger dem Niederländer zu und streckten ihm ihre Trikots für ein Autogramm entgegen. De Ligt erfüllte ihre Wünsche, ehe er sich für die obligatorischen Untersuchungen ins medizinische Zentrum aufmachte.
Der herzliche Empfang der Fans, verbunden mit der Bitte, in Turin zu bleiben, kann durchaus als repräsentatives Stimmungsbild verstanden werden: Der überwiegende Teil der Juve-Tifosi wäre mit de Ligts Abschied nicht glücklich.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der 1,90-Meter-Hüne seinen bis 2024 laufenden Vertrag bei den Bianconeri erfüllen wird, ist in den vergangenen Tagen jedoch merklich gesunken. (DATEN: Die Tabelle der Serie A)
De Ligt bei Juventus? „Nie ganz fehlerlos“
Stattdessen scheint es nur noch um die Ablösesumme zu gehen - und um ein Duell zwischen dem FC Bayern und dem FC Chelsea, wobei der deutsche Rekordmeister deutlich in der Pole Position ist. Nach SPORT1-Informationen hat der 22-Jährige den Münchnern bereits seine Zusage gegeben.
Dass trotz einer kolportierten Ablösesumme von mindestens 70 Millionen Euro viele Juve-Fans ihren Abwehrstar nicht ziehen lassen wollen, spricht für den Niederländer - und doch bestätigte er in drei Jahren nicht unbedingt seinen Ruf als kommender Weltklasseverteidiger.
„Ich habe ihn 2017 im Europa-League-Halbfinale zwischen Ajax und Lyon zum ersten Mal gesehen und war beeindruckt“, erinnert sich Giuseppe Bergomi bei SPORT1.
„Allerdings dachte ich, dass er sich mit seiner Ankunft in Italien schneller steigern würde, was aber nicht passiert ist. Er war nie ganz fehlerlos, obwohl er gleich im ersten Jahr mit Maurizio Sarri einen Meistertrainer in der taktischen Abwehrarbeit hatte.“
Entsprechend fällt der Weltmeister von 1982 und frühere Inter-Abwehrstar ein gemischtes Fazit: „De Ligt hat sich zwar leicht verbessert, aber er ist nicht konstant besser geworden.“
Auch Bergomis Weltmeister-Kollege Claudio Gentile, der in seiner aktiven Zeit unumstrittener Juve-Abwehrchef war, sieht die Vorschusslorbeeren, mit denen der damals 19-Jährige nach Turin wechselte, nur bedingt bestätigt.
Dann verkauft Juventus de Ligt an Bayern
„Wenn ich seine drei Spielzeiten beurteilen müsste, würde ich ihm eine 6 geben (im italienischen Notensystem von 1 (unterirdisch) bis 10 (überragend), Anm. d. Red.)“, sagt Gentile bei SPORT1. Für die Juve-Legende war sein Nachfolger also nicht viel mehr als Durchschnitt.
„Juve wird de Ligt verkaufen, wenn man einen passenden Nachfolger hat“, ist sich Gentile sicher. „So wie es derzeit aussieht, will Juventus den sofortigen Erfolg und überlegt, mit de Ligt Kasse zu machen.“ (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Serie A)
Der frühere Serienmeister müsse zwischen Gegenwart und Zukunft abwägen, sagt Bergomi, in Italien ein gefragter TV-Experte: „Würde Juve eine Langzeitstrategie verfolgen, müssten sie de Ligt auf jeden Fall halten.“ (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Serie A)
Flüchtet de Ligt vor Allegri?
Dass der Innenverteidiger bei Juventus keine großen Fortschritte gemacht habe, sagt auch Stefano Cantalupi von der Gazzetta dello Sport - allerdings habe dies weniger am Spieler gelegen als an dessen Trainern.
„Maurizio Sarri hatte nicht die richtige Persönlichkeit für Juve, Andrea Pirlo fehlte es an Erfahrung und Massimiliano Allegri spielt einen erschreckend hässlichen Fußball“, erklärt Cantalupi bei SPORT1.
„De Ligt hat gesehen, wie die Mannschaft über die Jahre immer schwächer wurde, weil man etwa Cristiano Ronaldo durch Moise Kean ersetzte. Ich glaube, dass er in einer Schlüsselphase seiner Karriere festgestellt hat, Zeit zu verschwenden, wenn er bei Juve bleibt.“
Dass de Ligt sein Potenzial bei Juventus nicht abrufen konnte, habe auch der Spieler selbst erkannt. Da Allegri weiterhin Juve-Trainer bleibt, sei seine Wechselabsicht demnach nur allzu verständlich.
Also auf nach München? Ja, findet der Gazzetta-Experte - ein Wechsel zum FC Bayern sei für den Oranje-Star genau der richtige Schritt. Eine Einschätzung, die im Übrigen auch Gentile teilt: „Bei den Bayern könnte de Ligt zum entscheidenden Faktor werden“.
Doch warum würde der frühere Ajax-Star so gut ins Bayern-System passen?
Nagelsmann als idealer Trainer für de Ligt?
„Ich glaube, dass er dort bestens aufgehoben ist, weil sein Stil hervorragend zu Julian Nagelsmanns Spiel passt“, sagt Cantalupi und präzisiert: „Er steht immer hoch und versucht, früh und aggressiv aus der Verteidigung herauszukommen.“
An einer Sache müsse de Ligt aber noch arbeiten: „Er sollte sich an seine Ajax-Zeit erinnern, wie man spielt, wenn man gegen den Angreifer allein gelassen wird“. In der niederländischen Eredivisie und der Bundesliga passiere dies häufiger - in Italien so gut wie nie.
Für Cantalupi ist klar, dass de Ligt die Anlagen für einen Weltklassespieler hat, die unter einem Trainer wie Nagelsmann zur Geltung kommen könnten. „Er hat Charisma, Führungsqualitäten, Konzentration und ist bereits ein Spitzenspieler, auch wenn er noch kein Virgil van Dijk ist.“
Am Montag nahm der Poker um den Jungstar weiter Fahrt auf, als Bayerns Sportchef Hasan Salihamidzic nach Turin flog, um ein erstes Angebot zu unterbreiten.
Einen Tag später äußerte sich Allegri während einer Pressekonferenz über seinen Schützling - und schloss einen Abschied nicht aus: „Das Transferfenster ist bis zum 31. August offen. De Ligt ist zum jetzigen Zeitpunkt ein Juve-Spieler. Ich bin zufrieden, wie sich der Verein verhält, wir werden ihn ersetzen, falls er uns verlassen wird.“
Und so spricht derzeit viel dafür, dass Matthijs de Ligt schon bald Autogrammwünsche an der Säbener Straße erfüllen wird - und nicht vor dem J Medical.