Jeremy Toljan sitzt zuhause in seiner Wohnung im norditalienischen Modena (170 Kilometer vor Mailand) und schaut aus dem Fenster.
Italien-Profi erklärt Corona-Alltag
"Es ist ziemlich leer, wenn man hier rausguckt", sagt der Rechtsverteidiger von US Sassuolo. Der Leihspieler von Borussia Dortmund gehört zu den positiven Überraschungen der bisherigen Saison in der Serie A. Die Ausbreitung des Coronavirus bedroht nun den Rest der Saison
Im exklusiven Interview mit SPORT1 spricht Toljan über sein Jahr in Italien, Geisterspiele und schildert seine Eindrücke zum Alltag mit Corona.
SPORT1: Die Ausbreitung des Coronavirus legt den Alltag in Italien lahm. Wie lebt es sich aktuell?
Jeremy Toljan: Es ist ziemlich leer, wenn man raus auf die Straße schaut - keine Autos, keine Menschen. Jeder geht im Supermarkt mit Handschuhen und Masken einkaufen. Das Ganze hat sich verstärkt, seit das Land zur roten Zone erklärt wurde. In den Supermärkten wurden an den Kassen extra Striche auf dem Boden angebracht, damit man den nötigen Abstand von einem Meter zur nächsten Person einhält.
Toljan über Corona: "Man fühlt sich unwohl"
SPORT1: Ministerpräsident Giuseppe Conte hat Italien abriegeln lassen und hat auch Fußballstadien zur "zona rossa" deklariert. Was hat sich seither im Alltag verändert?
Toljan: Es ist total seltsam. Eigentlich mache ich mir nicht so große Sorgen, aber wenn jeder dritte mit einer Maske rumläuft, dann fühlt man sich schon etwas unwohl. Die Leute hier haben Angst, weil sie nicht genau wissen, wie man damit umgehen soll. Die Restaurants sind teilweise geschlossen, die Läden haben zu. Das öffentliche Leben findet nicht mehr so statt wie vorher. Wir haben hier aber alle ein großes Vertrauen in die italienische Regierung und in die Ärzte. Sie machen zu 100 Prozent einen guten Job und gehen vorbildlich mit der Sache um.
SPORT1: Am Montag haben Sie das Geisterspiel gegen Brescia Calcio im eigenen Stadion mit 3:0 gewonnen. In der Bundesliga gab es nun das erste Spiel vor leeren Rängen. Wie haben Sie die Atmosphäre ohne Fans erlebt?
Toljan: Das war auch mein erstes Geisterspiel und ich muss sagen: es war sehr komisch. Du kommst mit dem Bus an deinem Stadion an, steigst aus und siehst keine Menschen. Da fällt die Spannung schon ein wenig weg, das Adrenalin fehlt. Wir spielen ja auch wegen den Fans Fußball. Sie machen den Sport am Ende aus. Die Sicherheitskräfte und Ordner im Stadion hatten Masken auf. Dadurch fühlt man sich im eigenen Stadion fremd. Im Spiel selbst hört man sogar die Kollegen auf der Bank reden. Das alles macht, um ehrlich zu sein, wenig Spaß. Aber wir sind Profis genug, um mit der Situation professionell umzugehen.
Toljan über die Lage in Italien
SPORT1: Der Verband hat beschlossen, alle sportlichen Aktivitäten bis einschließlich 3. April einzustellen. Die richtige Entscheidung?
Toljan: Ich bin kein Arzt und kein Virologe, aber die Gesundheit aller geht vor. Sie ist das höchste Gut eines Menschen. Die Zahl der infizierten ist hier in Italien hochgeschossen. Wenn wir mit diesen Maßnahmen dafür sorgen können, dass sich die Infektionsrate verlangsamt, dann sollten wir das tun. Ich finde das richtig.
SPORT1: Wie geht ihr Verein mit den Corona-Maßnahmen um?
Toljan: Sehr professionell. Bei uns wird zum Beispiel täglich Fieber gemessen. Der Verein steht in engem Austausch mit Liga und den Behörden und informiert uns darüber. Das gibt uns Sicherheit. Vor unserem letzten Spiel war die Stimmung beim Abendessen im Teamhotel etwas seltsam. Die Bedienungen hatten Handschuhe an und Masken auf, beim Essen wurde immer ein Platz zum Nebenmann freigehalten. Wir durften unser Essen auch nicht selber holen.
SPORT1: Es ist unklar, ob nach dem 3. April wieder gespielt werden kann. Wie bereitet man sich als Profi vor?
Toljan: Wir haben jetzt erstmal eine Woche freibekommen und können durchschnaufen. Der Verein wartet auf Rückmeldung. Am Montag kommen wir alle zusammen und sollen normal weitertrainieren. Wir versuchen dann, einen Alltag herzustellen und die Spannung hochzuhalten.
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Rückkehr zum BVB?
SPORT1: Sie wechselten im Sommer von Celtic Glasgow nach Sassuolo und entschieden sich gegen Top-Angebote. Was gab damals den Ausschlag?
Toljan: Ich wollte unbedingt wieder spielen und genieße hier in Sassuolo den vollen Rückhalt der sportlichen Führung. Die Serie A ist zudem von der Qualität her super. Die Liga hat sich gut entwickelt und eine enorm hohe Attraktivität. Das sieht man auch daran, dass Spieler wie Ronaldo oder Ibrahimovic herkamen. Man kann sich hier fast jede Woche gegen absolute Top-Mannschaften beweisen. Das gefällt mir.
SPORT1: Bei US sind Sie gesetzt und haben in 24 Spielen ein Tor erzielt und zwei Assists gegeben. Der Leihvertrag mit dem BVB läuft im Sommer aus. Ist eine Rückkehr nach Deutschland denkbar?
Toljan: Darüber mache ich mir zurzeit keine Gedanken. Ich fühle mich in Italien – mal ausgenommen von der aktuellen Lage - sehr wohl. Zurzeit läuft es sehr gut für mich. Ich möchte mich zunächst auf die Aufgabe hier in Sassuolo konzentrieren. Alles andere ist Zukunftsmusik. Ich habe zurzeit nur einen Wunsch: Dass die Leute da draußen, die mit Corona infiziert wurden, schnell wieder gesund werden.