Die Wettervorhersage verspricht einen sonnigen Sonntag in Liverpool und keine Niederschläge, trotzdem dürfte es am frühen Abend im Nordwesten Englands feucht werden, wenn gegen 18.55 Uhr deutscher Zeit die Partie zwischen dem FC Liverpool und den Wolverhampton Wanderers abgepfiffen wird.
Heute weint ganz Liverpool
Sturzbäche an Tränen und jede Menge Emotionen dürften zu erwarten sein, da in Liverpool eine Ära enden wird, die ihresgleichen sucht: Nach fast neun Jahren und 491 Spielen verlässt Jürgen Klopp die Reds und hinterlässt tiefe Spuren an der Anfield Road.
Jürgen Klopp und der FC Liverpool – das war mehr als eine Erfolgsgeschichte, vielmehr eine Liebesbeziehung, geprägt von großen Triumphen, unfassbaren Spielen, unglaublichen Comebacks sowie einer innigen Bindung zu Verein, Mitarbeitern, Spielern und Fans.
Abgesehen vom Triumph im Ligapokal, der bereits im Februar feststand, verabschiedet sich der 56-Jährige zum Saisonende ohne einen ganz großen Titel aus Liverpool, obwohl man am Mersey lange gar vom Quadrupel träumen durfte, ehe hinten heraus ein wenig die Puste ausging.
Klopp formt aus Liverpool Spitzenteam
Ernüchterung ist aber längst Wehmut gewichen, denn „The Normal One“ wird schmerzlich vermisst werden. Als er am 8. Oktober 2015 die Reds übernahm, lag der Klub in Trümmern, spielte im europäischen Spitzenfußball überhaupt keine Rolle mehr.
Innerhalb kürzester Zeit infizierte der Kulttrainer die Stadt mit seiner empathischen Art, entfachte eine enorme Euphorie und weckte den darbenden Klub aus dem Dornröschenschlaf. Auch wenn Titelgewinne zunächst noch ausblieben, baute Klopp eine Mannschaft auf, die begeisterte und die Anhänger in ihren Bann zog.
Spätestens mit dem Triumph in der Champions League 2019 nahm die Kloppomania ungeahnte Züge an und wurde nur noch getoppt, als er 2020 die Meisterschaft nach Liverpool holte – die erste der Reds seit sage und schreibe 30 Jahren! Insgesamt feierten Klopp und Co. acht Titel in sieben Wettbewerben.
„Mir geht es absolut gut“, ist der Topmotivator mit sich im Reinen, als er am Freitag noch einmal sehr intime Einblicke in sein Seelenleben gab. „Ich weiß, dass wir mehr hätten gewinnen können, aber das kann ich nicht ändern. Wir hätten auch weniger gewinnen können.“
Er selbst habe „nicht mehr tun können. Hätte es jemand anders besser machen können? Möglicherweise. Aber ich nicht, und damit habe ich kein Problem. Es wird von den Menschen beurteilt werden, und die meisten sind damit einverstanden.“
Statue für Erfolgstrainer?
Voll und ganz! So sehr, dass viele Fans eine Klopp-Statue vorm Stadion an der Anfield Road einfordern, wie bei den Trainerlegenden Bill Shankly und Bob Paisley. Der gebürtige Stuttgarter präsentierte sich in Liverpool nicht nur als exzellenter Trainer, sondern auch als herausragender Botschafter seines Heimatlandes.
Als Klopp Ende Januar ankündigte, den Klub zum Saisonende trotz Vertrags bis 2026 zu verlassen, sorgte er für Schockwellen, die bis heute anhalten und eine Gänsehaut-Atmosphäre im letzten Heimspiel gegen die Wolves garantieren. Die Heldenverehrung für Klopp hat schon seit längerem skurrile Züge angenommen.
So sagte Reds-Mittelfeldspieler Curtis Jones im Januar, dass Klopp „Vater der ganzen Stadt“ sei, während Steve Rotheram, der Bürgermeister der Liverpool City Region, gegenüber ESPN betonte, dass der Trainer „in der Religion des Liverpooler Fußballclubs so verehrt wird wie der Papst im Katholizismus“.
Klopp betonte mehrfach, ihm werde der selbst gewählte Abschied höchst schwerfallen: „Ich habe alles an diesem Ort geliebt. Ich nehme Erinnerungen mit, fantastische Erinnerungen. Freundschaften für immer. Wenn einem die Zeit durch die Finger rinnt, merkt man das erst später. Ich glaube nicht, dass es schnelle neun Jahre waren.“
Der 56-Jährige hinterlässt jedenfalls ein gewaltiges Erbe und riesige Fußstapfen für seinen Nachfolger, den Niederländer Arne Slot von Feyenoord Rotterdam. SPORT1 blickt zurück auf einige Meilensteine von Jürgen Klopp mit dem FC Liverpool.
Schnelles Wiedersehen
Nicht einmal ein Jahr ist der Abschied von Borussia Dortmund her, da kommt es für den Trainer schon zum Duell mit der alten Liebe. Im Viertelfinale der Europa League trifft Liverpool auf den Bundesligisten, nach einem 1:1 in Dortmund sieht es im April 2016 beim Rückspiel in Liverpool nicht gut aus.
Der BVB führt nach nur neun Minuten 2:0, nach gut einer Stunde 3:1. Dann drehen die Reds auf. Philippe Coutinho und Mamadou Sakho sorgen für den Ausgleich, Dejan Lovren trifft ganz spät zum Sieg (90.+1). Mit dem ersten Titel wird es allerdings nichts, Liverpool scheitert im Finale in Basel am FC Sevilla. Es ist die erste von vier Endspielteilnahmen im Europapokal.
Irres Comeback
7. Mai 2019, in der Champions League steht Liverpool vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Sechs Tage zuvor hat es im legendären Camp Nou vor fast 100.000 Fans ein 0:3 beim FC Barcelona gesetzt, Lionel Messi traf im Halbfinal-Hinspiel doppelt. 52.212 Zuschauer träumen an der Anfield Road vom Wunder, und sie bekommen es.
Diesmal schnüren Divock Origi und Georginio Wijnaldum Doppelpacks, das 4:0 bedeutet den Finaleinzug. Dabei konnten Mohamed Salah und Roberto Firmino gar nicht spielen. Einer der denkwürdigsten Abende in der langen Geschichte eines ruhmreichen Klubs.
Henkelpott!
Nach dem Coup gegen Barca wird es wieder auf spanischem Boden ernst, Liverpool bekommt es in Madrid im englischen Endspiel mit Tottenham Hotspur zu tun. Salah ist zurück und trifft früh per Elfmeter (2.). Origi, in Wolfsburg als Liverpool-Leihgabe ein Flop (2017/18), macht den Deckel drauf (87.).
Für Klopp ist es der erste Titel mit dem Klub aus der Arbeiterstadt und für ihn persönlich der erste Europapokal-Triumph bei seiner dritten Endspielteilnahme. Die Reds sind zum sechsten Mal die Könige Europas.
Sehnsucht gestillt
Endlos lang ist die Wartezeit in Liverpool, seit dem insgesamt 18. Erfolg von 1990 mit Kenny Dalglish gab es keinen Meistertitel mehr. Nicht unter Gerard Houllier, nicht unter Rafa Benitez, nicht unter Brendan Rodgers. Es ist Klopp, der die Mannschaft in der Corona-Saison 2019/20 nach einer Unterbrechung mit dem Vereinsrekord von 99 Premier-League-Punkten und riesigem Vorsprung zum Silberpokal führt.
Wegen der COVID-Beschränkungen müssen die Profis die Trophäe vor leeren Rängen in die Höhe stemmen, doch Tausende Fans widersetzen sich dem Verbot, sich außerhalb des Stadions zu versammeln und zünden rote Leuchtraketen.
Ein letzter Triumph
Vier Titel sind noch drin, als Klopp Ende Februar mit seinem Team im Finale des Ligapokals antritt. Topstars wie Salah, Darwin Nunez oder Alisson fehlen, doch Kapitän Virgil van Dijk (118.) sorgt per Kopf in Wembley spät in der Verlängerung für den 1:0-Sieg gegen den FC Chelsea.
Es ist der letzte von acht Triumphen für die Reds unter ihrem Star-Trainer, in der Europa League, im FA Cup und auch in der Meisterschaft geht Liverpool auf der Abschiedstour leer aus.
„Er war phänomenal“
„Es ist nicht so wichtig, was die Leute denken, wenn man anfängt“, sagte Klopp bei seiner Vorstellung im Oktober 2015. „Es geht darum, was die Leute denken, wenn du gehst.“
Stellvertretend für alle Liverpudlians findet der frühere Reds-Mittelfeldspieler Jamie Redknapp die passenden Worte: „Er hat die Leute wieder davon überzeugt, dass dieser Verein ein großer Verein ist, und genau das ist er auch. Er war phänomenal.“
-----
Mit Sport-Informations-Dienst (SID)