Es war ein beeindruckendes Bild, welches sich in der Nacht von Sonntag auf Montag in Lille bot: Eine Stadt ganz in Rot getaucht, eine Innenstadt voll mit Menschen und eine kollektive Partystimmung.
Sanches' Märchen mit Lille
So ganz coronakonform ging es in der Stadt im Norden von Frankreich wohl nicht zu, so wirklich konnten es die Sicherheitskräfte den Menschen aber nicht verdenken. Manche feierten sogar heimlich mit. Dafür gab es schließlich auch einen guten Grund: Der OSC Lille ist französischer Meister.
Die "Doggen" durchbrachen die Dominanz des übermächtigen Paris Saint-Germain - wie es sich gehört, filmreif am letzten Spieltag per Fernduell. Der frühere Bayern-Flop Renato Sanches hatte das kleine Fußball-Märchen von Lille am Sonntagabend mit einem starken Pass beim 2:1-Sieg bei Angers eingeleitet. Zu den Protagonisten des sensationellen Erfolgs gehören aber andere. (Angers - Lille zum Nachlesen im Ticker)
Ein interessanter Mann an der Seitenlinie
Einer von ihnen ist ganz sicher Christophe Galtier, der Trainer von Lille. Der 54-Jährige kann durchaus als schillernde Persönlichkeit im französischen Fußball bezeichnet werden.
Als Verteidiger kickte Galtier in Marseille, Lille, Nîmes, Angers und Toulouse. Auch im Ausland war er aktiv - in Italien und China. Als Coach sah der Franzose dann noch mehr von der Welt. Als Co-Trainer heuerte er in Griechenland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und in England an, ehe er in sein Heimatland zurückkehrte.
Im Jahr 2009 fand Galtier dann eine vorübergehende Heimat. Als Trainer von AS Saint-Étienne kam ein wenig Kontinuität in sein Leben als Wandervogel. Dort blieb er bis 2017, da ging es nach Lille.
In Frankreich hat sich Galtier einen Namen als guter Taktiker und gelegentlicher Trainerfuchs gemacht. Einer breiten Masse ist er auch wegen eines anderen Zwischenfalls bekannt: Im Jahr 2014 fiel ihm im Training ein Tor auf den Kopf und schlug in K.o.. Mit einem blutüberströmten Gesicht wurde Galtier ins Krankenhaus gebracht, bleibende Schäden trug er nicht davon.
OSC Lille und die beeindruckende Mischung
Das Konstrukt von Galtier in Lille besteht aus einer ganzen Horde von jungen Wilden. Vielleicht noch wichtiger: Diese Basis wird von gestandenen Fußballprofis zusammengehalten.
Die wichtigsten sind der zentrale Mittelfeldspieler Benjamin André (30), der Innenverteidiger und Kapitän José Fonte (37) und der Stürmer Burak Yilmaz (35). Letzterer hat auf seine alten Tage 16 Tore in 28 Ligaspielen erzielt. Sechs davon in den letzten fünf Spielen - als die Meisterschfaft eingetütet wurde. (Ligue 1: Tabelle)
Yilmaz wurde erst diesen Sommer verpflichtet und verdeutlicht einmal mehr das enorme Transfergeschick des damaligen Sportdirektors Luís Campos. Der Türke kam ablösefrei von Besiktas Istanbul.
Ohne solche Deals wäre die Meisterschaft mit Sicherheit nicht an Lille gegangen. Der Klub ist nämlich alles andere als auf Rosen gebettet. Ganz im Gegenteil.
Trainer Galtier kündigt überraschend Abschied an
Im Winter kamen die Doggen mit Mühe und Not an einem Insolvenzverfahren vorbei. Die finanziellen Schwierigkeiten sind aber noch allgegenwärtig.
Zum Jahreswechsel verließ Präsident und Eigentümer Gérard Lopez den Klub. Auch Sportdirektor Campos, einer der Hauptdarsteller der Erfolgsstory, ist seither Geschichte. Neuer Eigentümer ist ein Investmentfonds - und der fährt einen rigiden Sparkurs. Eine Wiederholung des kleinen Wunders ist daher schon jetzt aussichtslos. In der Champions League dürfte Lille ebenfalls einen schweren Stand haben.
Auch weil Erfolgscoach Galtier nur zwei Tage nach dem Titelgewinn verkündete, seinen bis 2022 laufenden Vertrag nicht zu erfüllen. "Ich bin einfach davon überzeugt, dass ich meine Zeit hier hinter mir habe", sagte Galtier in einem L'Équipe-Interview. Er bestätigte darüber hinaus, dass die Ligarivalen Olympique Lyon und OGC Nizza sowie der italienische Erstligist SSC Neapel Interesse an seiner Verpflichtung hätten.
Der Lille-Weg als Ausbildungsverein
Wandervogel Galtier zieht also weiter. Wie es in Lille weitergeht, ist offen. Im nächsten Jahr scheint der Klub einen noch deutlicheren Schritt hin zu einem klassischen Ausbildungsverein gehen zu müssen, um weiter erfolgreich zu sein.
Im Jahr 2017 kam Campos nach Lille und drückte den Doggen genau diesen Stempel auf. Seitdem hat Lille einen Transfergewinn von mehr als 125 Millionen Euro erwirtschaftet. Zu den verkauften Spieler gehörten Shootingstars wie Nicolas Pépé, der für 80 Millionen Euro zum FC Arsenal ging.
Abgänge wie dieser bedeuteten selten einen großen Leistungsabfall, das war sogar schon vor den Zeiten von Campos so. 2011 holte Lille die letzte Meisterschaft, schon damals war der Titel eine Sensation, die durch junge Spieler wie Eden Hazard möglich wurde, die in Lille zu Stars wurden und sich dann in die große Fußball-Welt aufmachten. Keine Besonderheit.
Ein Ausverkauf im Sommer hat beim OSC Lille schon fast Tradition. Auch in diesem Sommer führt daran wohl kaum ein Weg vorbei. Der erste Abgang steht schon so gut wie fest: Keeper Mike Maignan wird zum AC Mailand wechseln. (Transfermarkt Die heißesten Gerüchte im Transferticker)
Spieler wie der Kanadier Jonathan David (21), Jonathan Bamba (25) und Jonathan Ikoné (23) gehören auch zu den neuen Shootingstars von Lille, die bei ambitionierten europäischen Klubs auf der Wunschliste stehen. Und die drei Jonathans sind dürfen sich nun auch Meister nennen und sind daher wohl noch beliebter als ihre Vorgänger.