In der Geschichte des modernen Fußballs markiert der 15. Dezember 1995 einen Wendepunkt historischen Ausmaßes. Durch das so genannte Bosman-Urteil erschütterte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das System in seinen Grundfesten.
Der große Verlierer eines epochalen Erfolgs
Die höchstrichterliche Entscheidung (Aktenzeichen RS C-415/93) besiegelte das Ende von Ablösesummen nach Ablauf von Verträgen und zudem von bis dahin gängigen Ausländerbeschränkungen. Die Luxemburger Richter stellten quasi über Nacht die Machtverhältnisse zugunsten der Spieler auf den Kopf.
Der EuGH-Beschluss nach einer Klage des bis dahin weitgehend unbekannten Profi-Kickers Jean-Marc Bosman auf das in den EU-Verträgen verankerte Recht zur freien Wahl des Arbeitsplatzes ließ von einem auf den anderen Tag eine der wichtigsten Geldquellen für die Vereine schlichtweg versiegen.
Weitreichende Folgen für den Fußball
Mehr noch: Seit jenem Tag stopfen sich die Superstars und ihre Berater Millionen in die eigenen Taschen.
Diese Entwicklung hatte Bosman bei seiner lange belächelten Klage nicht im Sinn. „Es ist paradox“, meinte der Belgier 2015 im Interview mit der italienischen Gazzetta dello Sport:
„Der Reichtum sollte unter allen verteilt werden, aber jetzt machen nur einige wenige ganz viel Geld. Die Spieler waren wie Tiere in einem Käfig gefangen, und ich habe sie befreit. Heute aber sind sie Geiseln eines Systems, in dem der Fußball zu einer Maschinerie geworden ist.“
Bosman wollte nur Fußball spielen
Bosman selbst, der 2015 nach eigenen Angaben in einem kicker-Interview „null Euro“ auf dem Konto hat und „Null, Nullkommanull“ verdiente, wollte seinerzeit eigentlich nur spielen (können).
Weil 1990 nach Ablauf seines Vertrags beim FC Lüttich Bosmans Wechsel zum französischen Zweitligisten US Dünkirchen an einer zu hohen Ablöseforderung gescheitert war, ließ der Durchschnittsprofi die Rechtmäßigkeit der Transfersummen und die dadurch bedingte Beschränkung seiner Freiheit im EU-Arbeitsmarkt fünf Jahre lang durch alle Instanzen bis nach Luxemburg überprüfen - und triumphierte über das System.
„Es war die schlimmste Katastrophe, die der Klubfußball je erlebt hat“, fasste Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge vom deutschen Branchenführer Bayern München die Auswirkungen mit martialischen Worten zusammen.
Astronomische Ablösesummen
Eine Katastrophe vielleicht, aber mitnichten der Untergang: Tatsächlich verging zwar einige Zeit bis zur Entwicklung neuer Strategien zur Refinanzierung und Schulung heimischer Talente.
Doch dann speisten sich die meisten Klubs hauptsächlich aus milliardenschweren TV-Verträgen, viele gingen Partnerschaften mit Investoren ein. Das reichte vor Corona, um die Bezahlung der drastisch gestiegenen Spielergehälter zu ermöglichen.
In Deutschland setzten Vereine und Verband der nach Bosman eingetretenen Ausländerschwemme - 2001 standen erstmals in der Bundesliga bei Energie Cottbus im Spiel gegen den VfL Wolfsburg elf nicht für die deutsche Nationalelf spielberechtigte Akteure in der Anfangsformation - nachhaltige Ausbildungspläne entgegen:
Profi-Klubs müssen Teile ihrer Fernseh-Millionen inzwischen verpflichtend in den Betrieb von Nachwuchs-Internaten statt in neue Spieler investieren, und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) baute sein Stützpunktsystem aus.
Das Kontrastprogramm lieferte Englands Premier League: Die privaten Investoren agierten mit immer neuen Millionen nicht zuletzt auch für die nach Bosman in Mode gekommenen Handgelder für Profis als maßlose Preistreiber auf dem längst völlig überhitzten Markt besonders für ausländische Spieler.
Bosman zahlt den Preis
Und Bosman? Die Szene machte den "Rebell" zur Persona non grata, seine Karriere war nach 1995 faktisch beendet. Nur ganz wenige Profis zeigten angesichts seiner Existenzprobleme Solidarität und unterstützten den Wegbereiter ihres neuen Wohlstands mit kleineren Einmal-Spenden.
Zuletzt hielt sich Bosman mit kleineren Geldgeschenken der internationalen Spielergewerkschaft FIFPro über Wasser, „ansonsten wäre ich in der Scheiße“.
Denn sein Leben geriet völlig aus der Bahn. Alkoholprobleme, Depressionen und dann sogar eine Haftstrafe - Bosman ist längst der größte Verlierer seines historischen Erfolgs.
Dennoch ist der gestürzte Rebell mit sich im Reinen: „Man wollte mich ausradieren. Ich hätte nicht erwartet, so viel zu verlieren, wie es mir passiert ist. Ich habe verstanden, dass man einen Preis zahlt, wenn man einen Machtapparat angreift. Aber ich würde alles wieder so machen.“