„Entschuldigung für die Verspätung“, begrüßt Matthias Jaissle SPORT1, obwohl er sich nur ein paar Sekunden nach dem vereinbarten Termin in den Call einwählte. Pünktlichkeit ist dem Coach enorm wichtig. Eine Tugend, die ihm aktuell etwas fehlt.
Hoeneß-Erbe? Trainer-Juwel spricht
Jaissle gilt als eines der größten deutschen Trainer-Talente. Mit gerade einmal 36 Jahren hat er schon eine Menge erlebt. Seine zunächst so Bilderbuch-mäßig verlaufende Spielerkarriere (u.a. Hoffenheim) musste der ehemalige deutsche U21-Nationalspieler verletzungsbedingt vorzeitig beenden.
Jaissle orientierte sich um und startete bei RB Leipzig seine Trainer-Laufbahn. Über Stationen in Bröndby, der Akademie von RB Salzburg und Liefering führte sein Weg zu RB Salzburg, wo er mit dem zweimaligen Gewinn der Meisterschaft und des Pokals seine bislang größten Erfolge feiern konnte.
Jaissle im Interview: So läuft es in Saudi-Arabien
Im Sommer 2023 wechselte er nach Saudi-Arabien und qualifizierte sich mit dem Aufsteiger Al-Ahli und Stars wie Riyad Mahrez oder Roberto Firmino direkt für die asiatische Champions League, wo er direkt einen Startrekord aufstellte.
Am Wochenende gelang seinem Team ein fulminanter 4:2-Sieg gegen Al Tawoon - und das nach einem 0:2-Rückstand. Sportlich läuft es nach Anfangsschwierigkeiten also wieder einwandfrei. Auch deshalb traf SPORT1 auf einen sichtlich erleichterten und glücklichen Trainer, der sich schon lange nicht mehr gegenüber deutschen Medien geäußert hat.
Im exklusiven Interview spricht der gebürtige Nürtinger über seine Zeit in Saudi-Arabien, die kritische WM-Vergabe 2034, über Eigenheiten seiner Topstars und über das Interesse aus der Bundesliga und der Premier League. Außerdem verrät Jaissle, bei welchem Verein ihn seine Mutter am liebsten sehen würde.
Trainer-Juwel muss wohl unters Messer
SPORT1: Herr Jaissle, erstmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem fulminanten Sieg am Wochenende, der gleichzeitig das letzte Spiel für euch in diesem Jahr war. Jetzt geht es in die einmonatige Winterpause. Wie sieht der Plan aus?
Jaissle: Ich bin fast schon traurig, dass ausgerechnet jetzt Pause ist. (lacht) Wir sind gerade so richtig gut in Schwung gekommen. Aber die Jungs haben jetzt erstmal zwei Wochen frei, regenerieren sich und müssen dann zu Hause individuell ihre Läufe und Trainingseinheiten durchziehen. Nach Weihnachten, am 27.12., geht es dann wieder weiter.
SPORT1: Und wie verbringen Sie die Pause?
Jaissle: Für mich geht es nach Österreich zurück. Ich muss mich voraussichtlich noch einer Knie-OP unterziehen – die Nachwirkungen der Profikarriere.
SPORT1: Die Weltmeisterschaft 2034 wird aller Voraussicht nach in Saudi-Arabien stattfinden. Die Abstimmung am Mittwoch gilt als reine Formsache. Der DFB hat seine Unterstützung bereits bekanntgegeben. Was bedeutet das für die Menschen und das Land?
Jaissle: Das ist ein historischer Moment. Das zeugt vom großen Ehrgeiz von Saudi-Arabien, den Fußball weiterzuentwickeln. Das Turnier hat einen riesigen Stellenwert für das Land. Allein in den eineinhalb Jahren, in denen ich hier bin, hat sich schon viel getan. Die WM wird der Entwicklung nochmal einen Boost geben.
SPORT1: Die Kritik an der Vergabe ist dennoch groß. Kann das Turnier auch außerhalb des Platztes zu einer Verbesserung beitragen? Stichwort Menschenrechte.
Jaissle: Ich weiß, dass das debattiert wird. Man darf nicht die Augen verschließen, auch ich habe mir vor meinem Wechsel viele Gedanken gemacht. Aber ich bin der Überzeugung, dass der Sport eine Kraft für gesellschaftlichen Wandel hat.
Jaissle: „Vermisse die Berge und die Seen“
SPORT1: Zu welcher Jahreszeit würden Sie die Austragung der WM empfehlen?
Jaissle: Der Sommer ist schon brutal heiß, aber die Technologie ist so weit fortgeschritten, dass man die Stadien ganz gut runterkühlen kann. In der Champions League musste ich mir sogar einen Pulli anziehen, da wars richtig kalt. Sonst ist es definitiv abends am angenehmsten oder dann über die Wintermonate.
SPORT1: Sie kommen aus Nürtingen, rund 30 Kilometer entfernt von Stuttgart. Seit eineinhalb Jahren sind Sie jetzt schon hier. Was vermissen Sie denn am meisten?
Jaissle: Auf jeden Fall die Berge und die Seen. Das habe ich in Salzburg schon sehr geschätzt. Aber klar, am meisten sind es Familie und Freunde. Von denen kann mich keiner mal im Handumdrehen besuchen, wie das in Salzburg der Fall war. Hierherzukommen ist schon mit deutlich mehr Aufwand verbunden.
SPORT1: Was sind denn die größten Unterschiede im Vergleich zu Deutschland oder Österreich?
Jaissle: Auf jeden Fall das Klima. Schnee gibt es hier nicht, dafür Sonne, Hitze und Meer. Die Rahmenbedingungen sind allein deshalb schon komplett anders. Während des Tages ist hier wenig los, es verschiebt sich viel in die Abendstunden und in die Nacht. Das Training findet immer erst um 20 Uhr statt. Daher geht man auch oft erst sehr spät ins Bett. Der erste Sommer war richtig hart. Der zweite dafür machbarer. Der Körper gewöhnt sich zum Glück an diese Umstellungen.
SPORT1: Wie ticken denn die Leute? An welche kulturellen Unterschiede mussten Sie sich zum Beispiel gewöhnen?
Jaissle: Mit der deutschen Pünktlichkeit haben sie es hier nicht so. (lacht) Aber generell wurde ich hier sehr herzlich aufgenommen. Alle waren von Anfang an total hilfsbereit. Das hat mir den Start definitiv erleichtert.
Startrekord in der Champions League
SPORT1: Sportlich läuft es bei Ihnen einwandfrei. Im ersten Jahr schafften Sie mit Al-Ahli, die gerade aufgestiegen waren, die Qualifikation für die asiatische Champions League, stellten dort in dieser Saison direkt einen Startrekord auf (fünf Siege aus den ersten fünf Spielen). Wohin soll die Reise mit dem Klub gehen?
Jaissle: Letztes Jahr war wahnsinnig erfolgreich. Dadurch sind natürlich auch die Ansprüche gestiegen. Nach einem schwierigen Start haben wir uns aber gut zurück gekämpft. Langfristig will der Verein Titel gewinnen. Aber dafür müssen auch die Strukturen noch wachsen.
SPORT1: Zum Beispiel?
Jaissle: Die Infrastruktur mit einem neuen Trainingsgelände und eine einheitliche Spielphilosophie, die sich durch den Verein bis zu den jüngsten Nachwuchsmannschaften durchzieht. Da dabei sein und mitgestalten zu können, macht dieses Projekt so spannend. Ich kann überall Einfluss nehmen. Natürlich ist das noch nicht mit Europa zu vergleichen, aber die Entwicklung ist rasant.
SPORT1: Wie steht es um die Entwicklung des Fußballs? Wie sehen Sie das Niveau?
Jaissle: Das steigt stetig, auch im Training. Natürlich auch dank der Investments und durch die Topstars, die das Niveau sofort anheben. Das hilft auch den saudischen Talenten, sich zu entwickeln. Auch innerhalb der Liga wächst die Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt kein Team mehr, dass du im Vorbeigehen schlägst. Das war zu Beginn meiner Zeit hier noch anders.
SPORT1: Sie haben Spieler in Ihrem Team, die wohl kaum jemand außerhalb Ihrer Liga kennt, die einen fast schon zu vernachlässigenden Marktwert haben. Aber auch eben Topstars wie beispielsweise Roberto Firmino (zuvor Liverpool), Riyad Mahrez (Manchester City), Torhüter Edouard Mendy (FC Chelsea), Merih Demiral (Juventus Turin), Franck Kessié (FC Chelsea), Ivan Toney (Brantford). Wie gehen Sie mit dem unterschiedlichen Niveau um?
Jaissle: Meine Aufgabe ist es, jeden mitzunehmen. Egal ob Riyad Mahrez, der gefühlt schon alles gewonnen hat, oder ein saudisches Talent. Aber das macht das Ganze auch spannend. Gerade wenn man die Schritte der Talente hier mitbekommt.
Spieler ticken wie in der Kreisliga
SPORT1: Wie schwer ist der Umgang mit den Topstars? Haben die Allüren? Eigenheiten?
Jaissle: Diese Spieler waren einer der Hauptgründe für meinen Wechsel. Gerade was das Coaching und die Führung von absoluten Superstars angeht, habe ich hier dazugelernt. Ich habe ihnen von Anfang an meine Werte und unverhandelbare Leitplanken mitgegeben. Die gelten für alle. Egal, welcher Name auf dem Shirt steht. Aber natürlich hat auch jeder seine Eigenheiten und Ticks.
SPORT1: Verraten Sie sie uns?
Jaissle: Ich will keine Namen nennen. Aber der eine muss seinen Espresso immer zur selben Uhrzeit trinken, muss immer der letzte sein, der aus der Kabine kommt. Der anderen stellt seine Schuhe immer ganz akkurat hin, bevor er zum Warmup geht. Das ist schon witzig. Aber das hast du auch in der Kreisliga.
SPORT1: Hatten Sie als Spieler einen Tick?
Jaissle: Ich habe vor dem Spiel immer eiskalt geduscht. Noch in der Kabine. Ich bin ein Fan vom Eisbaden und das hat mir damals schon geholfen, so richtig wachzuwerden.
SPORT1: Klappt das mit dem Eisbaden in Saudi-Arabien?
Jaissle: Dank der Technologie, ja. So richtig kaltes Wasser kommt aber nicht aus der Dusche.
SPORT1: Ihre eigene Spielerkarriere mussten Sie im Alter von 25 Jahren beenden. Sie hatten immer wieder mit schweren Verletzungen zu kämpfen. Dadurch sind Sie früh Trainer geworden, konnten in Österreich Titel sammeln und schon viele Erfahrungen sammeln. Sind Sie im Nachhinein auch ein bisschen froh, dass das alles so gekommen ist?
Jaissle: Ich sage meinen Spieler immer: Genießt jede Sekunde. Fußballer zu sein ist das Allergeilste auf der Welt. Seid dankbar, dass ihr diesen Beruf ausüben könnt. Natürlich würde ich noch immer gerne kicken, aber es sollte so sein. Es war damals unglaublich hart, zu akzeptieren, dass es vorbei ist. Meine Ärzte und Therapeuten haben mir schon viel früher gesagt, dass es keinen Sinn mehr macht. Ich habe immer gekämpft. Irgendwann habe ich mir dann gesagt: Für irgendwas ist das alles gut. Daran geglaubt hatte ich aber nicht wirklich. Zehn Jahre später ist es schon eine coole Geschichte, die so aber nicht vorhersehbar war.
Fokus trotz interessanten Angeboten nicht in Europa
SPORT1: Wie sehr verfolgen Sie denn noch den europäischen Fußball? Gucken Sie die Bundesliga oder Premier League?
Jaissle: Ich gucke extrem viel und zwar querbeet. Meine ehemaligen Vereine verfolge ich natürlich nach wie vor aber auch andere Top-Ligen. Mich reizt es, immer wieder neuen Input zu bekommen. Außerdem will ich immer up to date sein. Der Fußball ist so dynamisch, entwickelt sich ständig weiter und da versuche ich immer am Ball zu bleiben.
SPORT1: Nicht nur Sie gucken auf andere Vereine, sondern auch die auf Sie. Sie werden beispielsweise beim VfB Stuttgart gehandelt, sollte Sebastian Hoeneß den Verein verlassen und auch bei West Ham kursierte ihr Name. Wie gehen Sie damit um?
Jaissle: Das ist schön zu sehen und zu hören, dass man nicht von der Bildfläche verschwunden ist. Aber ich blende das komplett aus, mein Fokus liegt zu 100 Prozent auf Al-Ahli, gerade weil wir hier auf einem sehr guten Weg sind.
SPORT1: Aber eine Trainerlegende in Saudi-Arabien wollen Sie bestimmt nicht werden, oder?
Jaissle: (lacht) Ich schmiede generell keine Pläne. Da hat mich meine Spielerkarriere zu sehr geprägt. In Hoffenheim oder auch bei der U21 haben Sie mir ständig meinen Weg aufgezeigt, dann hat es im Knie Peng gemacht und dann war alles dahin. Deshalb konzentriere ich mich auf die Sachen, die ich beeinflussen kann und gebe da mein Bestes. Der Rest kommt eh. Natürlich ist es ein Traum, eines Tages mal in den Top-Ligen zu arbeiten. Aber wann und ob das passieren wird? Keine Ahnung. Aktuell bin ich bei Al-Ahli – und das mit all meiner Energie.
SPORT1: Ein Wechsel nach Stuttgart wäre für Sie eine Rückkehr in die Heimat und zu Ihrem Jugendverein. Das muss doch reizvoll sein?
Jaissle: Als meine Mama von den Gerüchten gelesen hatte, hat sie mich direkt angerufen und gesagt, dass ich wieder zu Hause einziehen kann (lacht).
Jaissle: „Möchte niemanden kopieren“
SPORT1: Ralf Rangnick gilt als einer Ihre größten Förderer. Sie haben mal gesagt: „Seine Klarheit und Detailversessenheit haben mir imponiert.“ Wie würden Sie sich selbst und Ihre Vorstellung vom perfekten Fußball beschreiben?
Jaissle: Keine Chance, dass ich mich selbst beschreibe. Ralf ist ein Trainer, von dem ich sehr viel mitgenommen habe. Der hatte nie Fragezeichen im Kopf. Jeder wusste immer, was zu tun ist. Diese Klarheit und Detailversessenheit will ich natürlich auch weitergeben. Als Trainer braucht man aber auch immer seine eigene Identität - sowohl beim Führungsstil als auch bei der Art, wie man Fußball spielen möchte. Und dabei haben mich meine Stationen bei RB natürlich geprägt. Ich will einen aktiven, dominanten und aggressiven Fußball gegen den Ball mit hohem Pressing spielen. Aber gerade gegen tiefstehende Gegner musst du Lösungen finden. Es reicht nicht aus, sich nur auf eine Phase des Spiels zu konzentrieren.
SPORT1: Haben Sie ein Trainervorbild?
Jaissle: Es gibt immer wieder Trainer, von denen ich mir Input hole. Von Pep Guardiola zum Beispiel oder von Roberto de Zerbi. Jürgen Klopp beherrschte das perfekte Umschaltspiel, Ralf Rangnick die Arbeit gegen den Ball. Ich versuche mir überall das Beste rauszuziehen. Kopieren möchte ich aber keinen.
SPORT1: In zwei Wochen ist Weihnachten. Feiern Sie das Fest in Saudi-Arabien oder der Heimat?
Jaissle: Ich feiere Weihnachten in Österreich im Schnee mit Freunden und Familie. Ich gebe mir also das komplette Kontrastprogramm.
SPORT1: Auf Skifahren werden Sie aber wohl, aufgrund der möglichen OP, verzichten müssen, oder?
Jaissle: Ja, leider. Gerade darauf hatte ich mich eigentlich so gefreut. Vielleicht reicht es für eine kleine Skitour. Das darf ich aber nicht dem Arzt erzählen (lacht).