Es ist Fußball-WM, und Brasilien schaut am Zuckerhut nur tatenlos zu? Eigentlich undenkbar. Aber nach dem 0:1 (0:1) in Paraguay, der bereits vierten Niederlage im achten Qualifikationsspiel zur Endrunde 2026, ist das Schreckensszenario nicht mehr auszuschließen.
Brasilien am Abgrund
Gefrustet, gepeinigt, geschlagen torkelte die einst stolze Selecao nach dem Schlusspfiff im Estadio Defensor del Chaco von Asuncion nahezu orientierungslos über den Rasen.
Und weil der Rekordweltmeister, der noch nie eine WM-Endrunde verpasst hat, mit über 70 Prozent Ballbesitz nichts anzufangen wusste, blieb am Ende nur der Offenbarungseid.
„Von da an war das Spiel praktisch gelaufen“, bekannte der spät eingewechselte Lucas Moura. Gemeint war das frühe Gegentor in der 20. Minute. Und das fantasielose Anlaufen danach.
„Alles, was man jetzt sagen könnte, wären bloße Ausreden, Worte ohne Wert. Die Spiele zu gewinnen, das wäre jetzt die beste Antwort“, sagte Innenverteidiger Marquinhos und gestand ein: „Wir haben gerade nicht viel Selbstvertrauen.“
Real-Star Vinicíus lässt keine Ausreden gelten
Die Erben von Pelé, Zico, Ronaldo oder Romario wissen offensichtlich nichts mehr mit dem Ball anzufangen. In den ersten 45 Minuten kam das Team um Vinícius Júnior, Endrick und Rodrygo, allesamt bestens bezahlte Stürmer bei Champions-League-Rekordsieger Real Madrid, gerade einmal auf einen Torschuss - durch Linksverteidiger Guilherme Arana.
Paraguay nutzte dagegen gleich seine erste Chance, als Diego Gomez sehenswert mit dem Außenrist von der Strafraumkante traf.
Vinícius Jr., der im Nationaldress zuletzt häufiger hinter den Erwartungen geblieben war, erklärte nach der Partie, dass es „etwas ganz anderes“ sei als bei Real Madrid.
Den europäischen Fußball könne man nicht mit dem südamerikanischen vergleichen, schon die schlechteren Platzbedingungen würden das Spiel vollkommen verändern. Als Ausrede wolle er das jedoch nicht gelten lassen.
„Wir müssen wissen, wie wir uns anpassen müssen, wir müssen uns weiterentwickeln“, forderte das Aushängeschild der Mannschaft, das bei den Anhängern in Brasilien um Verzeihung bat: „Ich entschuldige mich bei den Fans, die immer auf unserer Seite sind, es war eine schwierige Zeit, wir müssen einfach besser sein.“
Das Ende einer jahrzehntelangen Machtdemonstration
Seinen eigenen Anteil will der Brasilianer gar nicht erst schönreden. „Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst, ich muss mich so schnell wie möglich weiterentwickeln“, stellte der 24-Jährige klar.
Es war zwar erst die zweite Niederlage unter Dorival Júnior in seinem zehnten Spiel als Nationaltrainer seit Januar, aber die Negativerlebnisse wie auch beim Viertelfinal-Aus vor wenigen Wochen bei der Copa América häufen sich. Langsames Passspiel, keine Verbindung zwischen Mittelfeld und Stürmern, viele Einzelaktionen, die im Nichts versanden - die Selecao 2024 ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
In den laufenden Eliminatorias gab es bereits die erste Pleite nach 64 ungeschlagenen Heimspielen. Es endete eine stolze Serie von 37 Eliminatorias-Partien ohne Niederlage, die Selecao verlor drei WM-Qualifikationsspiele in Folge, unterlag Uruguay erstmals seit 22 und jetzt Paraguay erstmals nach 16 Jahren.
WM-Aufblähung könnte Brasilien retten
Die Nummer eins in der Welt nach WM-Titeln (fünf) ist aktuell nur Fünfter auf dem Kontinent und wäre derzeit allein dank der Aufblähung der kommenden WM auf 48 Teams als einer von sechs direkt qualifizierten Südamerikanern dabei. Doch Venezuela hat ebenfalls zehn Punkte auf dem Konto, Paraguay und Bolivien liegen mit einem Zähler Rückstand in Schlagweite.
Den Ernst der Lage scheint auch die Mannschaft inzwischen erkannt zu haben. „Wir können nicht hierherkommen, diese Punkte verlieren und so spielen, wie wir es getan haben. Wir kennen die Situation, in der wir uns befinden und wir wollen Brasilien um jeden Preis aus dieser Situation herausholen“, gab sich Vinícius kämpferisch, konkrete Ansätze konnte er allerdings kurz nach Abpfiff noch nicht ausmachen:
„Wir müssen jetzt alle nach Hause gehen und anfangen, darüber nachzudenken, was wir tun können, um wieder gut spielen zu können.“
Bankrotterklärung für Brasilien?
Retter Neymar scheint dagegen wie eine Fata Morgana in weiter Ferne. Denn der 32-Jährige trainiert elf Monate nach seiner schweren Verletzung (Kreuzband- und Meniskusriss im linken Knie) beim saudi-arabischen Klub Al-Hilal immer noch nicht mit dem Ball. „Wir müssen abwarten“, moderierte Dorival entsprechende Nachfragen nach dem Spiel kurz ab.
Immerhin steht beim nächsten Doppelspieltag Mitte Oktober ein Aufbauprogramm an, mit dem Gastspiel beim Vorletzten Chile und der Heimpartie gegen das nach acht Auftritten noch sieglose Peru.
Für Vini Jr, gilt es, „so schnell wie möglich wieder in die Spur zu kommen, um Brasilien wieder an die Spitze zu bringen“. Weitere Niederlagen wären für die „Canarinhos“, die heute in ihren gelben Trikots seltsam blass rüberkommen, eine Bankrotterklärung.
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Mit SID (Sport-Informations-Dienst)