Diego Maradona hatte ihm viel zu verdanken. Pep Guardiola verehrte ihn. In seiner Heimat war er ein Nationalheld, nachdem er die WM im eigenen Land gewonnen hatte. Und Fußball-Kenner in aller Welt liebten ihn immer noch etwas mehr als andere Coaches.
Wofür Menotti Löw bewunderte
Es ging bei César Luis Menotti, am Sonntag im Alter von 85 Jahren verstorben, um mehr als nur seine Erfolge und seinen stilbildenden Einfluss auf die Trainer nach ihm. Es ging auch um mehr als seine integre Persönlichkeit und wie er sich nicht vereinnahmen ließ von der mörderischen Militärjunta, die in Argentinien herrschte, als er das Heimturnier 1978 gewann - politisch seinerzeit ähnlich umstritten wie die WM 2022 in Katar.
Es ging bei Menotti stets auch darum, wie er die Faszination Fußball in Worte fasste, wie er in philosophisch-poetischen Gedanken über seine Liebe zur Schönheit des Spiels erzählen und sie feiern konnte.
Weswegen es dann auch ein besonderer Ritterschlag für die Fußballnation Deutschland war, als der große Ästhet Menotti sich spät in sie verliebte.
Ein Trainer-Jungstar wie heute Nagelsmann
Die Geschichte Menottis und die des deutschen Fußballs haben sich mehrfach gegenseitig beeinflusst - beginnend mit der WM 1974 in Deutschland, die der Türöffner für Menottis Karriere war.
Während die goldene DFB-Generation um Franz Beckenbauer und Gerd Müller sich dort krönte, erlebten die Albiceleste unter dem kurzfristig berufenen Coach Vladislao Cap ein Desaster: Nach einer durchwachsenen Vorrunde besiegelte ein 0:4 gegen den späteren Finalisten Niederlande mit Johan Cruyff - Menottis Bruder im Geiste - das Aus in der Zwischenrunde.
Argentiniens Verbandsbosse sahen die Notwendigkeit, für die Heim-WM einen Neuaufbau einzuleiten. Sie riefen das große Trainertalent Menotti, im Jahr zuvor mit CA Huracán Landesmeister geworden. Und mit 35 Jahren damals jünger als Julian Nagelsmann heute.
Vom Weltmeister-Coach zum „Welterklärer“
Der 1,93-Meter-Mann gestaltete mit natürlicher Autorität und Gespür für Talent ein formidables Kollektiv um Kapitän und Libero Daniel Passarella und Toptorjäger Mario Kempes. Belohnt wurde es mit Argentiniens erstem WM-Titel überhaupt, Kempes schoss zwei Tore beim 3:1-Finalsieg nach Verlängerung gegen die Niederländer, damals gecoacht von Ernst Happel.
Menotti trainierte die „Gauchos“, nach der WM 1978 veredelt mit dem damals 17 Jahre jungen Diego Maradona, bis 1983. Obwohl ihm 1982 in Italien die Titelverteidigung misslang, schuf er mit seinem Wirken die Basis für Argentiniens anhaltenden Erfolg auf der Weltbühne und die große Rivalität mit Deutschland, gipfelnd in den beiden WM-Finals 1986 und 1990.
Nach seinem Aus als Nationalcoach und einem kurzen Zwischenspiel als Trainer des FC Barcelona war Menotti als Trainer weniger erfolgreich. Er prägte den Sport aber weiter in der Rolle, in der ihn spätere Generationen vor allem wahrnahmen: als „Welterklärer des Fußballs“ (FAZ).
Ein Freund der Kunst - nicht nur im Fußball
Als TV-Experte und in vielen Interviews und Kolumnen vermittelte Menotti seine Ideale und seine Liebe zum Spiel: Er feierte Trainer, die seine Vorstellungen teilten und geißelte nackten; destruktiven Ergebnisfußball („Für mich ist Fußball etwas Menschliches. All jene, die nur darauf aus sind, Spiele zu gewinnen, haben den eigentlichen Sinn nicht verstanden. Sie spielen in meinen Augen falsch“). Vielzitiert ist auch sein politisches Credo, dass es einen linken und einen rechten Fußball gebe.
Der selbst politisch links stehende Arztsohn zog auch immer wieder gedankliche Verbindungen zwischen Fußball, Gesellschaft und Kultur, berief sich auf Schriftsteller wie José Luis Borges, Maler wie Picasso, auf klassische Musik und Orchester-Dirigenten.
Der Kettenraucher Menotti war dabei kein naiver Schöngeist, er wusste und beschrieb präzise, dass große (Fußball-)Kunst nicht nur auf individuellem Genie wie dem Maradonas basierte. Dass harte Arbeit, handwerkliches Verständnis und ein System aus Disziplin und Ordnung ebenso elementar ist.
Im DFB-Team vermisste er seinen deutschen Lieblingsschüler
Der Kunstfreund Menotti wusste folglich auch den deutschen Fußball und seine vielbeschworenen „Tugenden“ durchaus zu schätzen.
Auf die Weltmeister-Elf von 1974 blickte er respektvoll, weil sie in seinen Augen eine ideale Mischung aus „Ordnung“ und „der individuellen Qualität von Spielern wie Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath oder Gerd Müller“ verkörperte.
Als er vor der WM 1986 erstmals wieder von außen auf die Machtverhältnisse schaute, sah er trotz einer verkorksten Vorbereitung unter Teamchef Beckenbauer klarer als andere voraus, dass das DFB-Team wieder um den Titel mitspielen würde.
Er zweifelte in einem Spiegel-Interview allerdings an den Trainerqualitäten Beckenbauers: „Kaum einmal ist ein großer Spieler auch ein großer Trainer geworden. Ein Trainer, der sich in seiner aktiven Zeit als Fußballer vieles hart erarbeiten musste, kommt mit den technischen und taktischen Problemen seiner Spieler eher klar als der einstige Star, dem alles zufiel.“
Und er hatte auch kein Verständnis, dass sich Fußball-Deutschland so sehr an seinem früheren Barca-Schützling Bernd Schuster rieb - der wegen verschiedener Verwerfungen nach 1984 kein Länderspiel mehr bestritt. In Menottis idealer Welt hätte der „blonde Engel“ Beckenbauers Kapitän, sein Maradona sein müssen.
Dass der streitbare Schuster in Deutschland als Exzentriker galt, fand Menotti albern, gerade im Vergleich zu seinem anderen berühmten Zögling: „Für den verschwenderischen Maradona beginnt der Tag erst abends um zehn, während der sehr diszipliniert und sparsam lebende Schuster wahrscheinlich nicht einmal ins Kino geht, sondern sich eine Videokassette ausleiht und die dann zu Hause anschaut.“
Menotti liebte, was Joachim Löw aus Deutschland machte
Mit noch größerer Begeisterung blickte Menotti ab 2006 nach Deutschland, das Sommermärchen im eigenen Land („Ich habe noch nie ein solch riesiges Straßenfest gesehen“) hatte es für ihn endgültig ins Licht geführt.
„Seit 2006 spielen sie im Kollektiv wagemutig, ja geradezu verwegen“, lobte Menotti 2016, zwei Jahre nach dem WM-Titel in Rio de Janeiro, wieder errungen mit einem Finalsieg über sein Heimatland mit Lionel Messi: „Man könnte auch sagen, der deutsche Fußball hat begonnen, die Schönheit im Spiel zu entdecken, mehr als die Effizienz, die er ohnehin schon immer besaß.“
Menotti verneigte sich vor allem vor Joachim Löw, für ihn mit seinem „Mut“, mit alten Mustern zu brechen, der „Hauptverantwortliche“ der Entwicklung: „Manchmal gibt es eine Generation von Spielern wie Maradona oder Messi, die für einen Qualitätssprung sorgen. Aber in diesem Fall, der Entwicklung Deutschlands, scheint es mir, wir müssen eher von einer Revolution des guten Geschmacks sprechen. Deutschland hat nicht diesen einen exzellenten Individualisten, sondern viele sehr gute Spieler und vor allem eine großartige Mannschaft.“
Es war der ultimative Ritterschlag für das moderne Fußball-Deutschland, vergeben von einer der gewichtigsten Stimmen des Sports - die nun leider für immer verstummt ist.