Home>Int. Fußball>

Türkei-Überflieger: „An diesem Abend musste ich das einfach machen"

Int. Fußball>

Türkei-Überflieger: „An diesem Abend musste ich das einfach machen"

{}
{ "placement": "banner", "placementId": "banner" }
{ "placeholderType": "BANNER" }

„Ich musste das tun“

Seit Sommer 2023 trainiert Markus Gisdol den türkischen Erstligisten Samsunspor, der vor dieser Saison in die Süper Lig aufgestiegen ist. Im Interview spricht er über seine Arbeit in der Türkei und über die enormen Emotionen.
Deutet sich da etwa ein Transfer-Hammer um Marco Reus an? Der Vertrag des BVB-Stars endet am Saisonende - bleibt er oder geht er? Offenbar weckt der 34-Jährige Interesse im Ausland.
Seit Sommer 2023 trainiert Markus Gisdol den türkischen Erstligisten Samsunspor, der vor dieser Saison in die Süper Lig aufgestiegen ist. Im Interview spricht er über seine Arbeit in der Türkei und über die enormen Emotionen.

Markus Gisdol hat allen Grund zur Freude. Nach 27 Spielen belegt sein Klub Samsunspor Platz elf, was den Klassenerhalt zu einem realistischen Ziel macht. Gisdol war zuvor Trainer bei Lokomotive Moskau, verließ jedoch den Verein 2022 zu Beginn des Ukraine-Kriegs. In der Bundesliga rettete er einst die TSG Hoffenheim, den Hamburger SV und den 1. FC Köln vor dem Abstieg in die Zweite Liga.

{ "placeholderType": "MREC" }

Im exklusiven SPORT1-Interview spricht der 54-Jährige über seine Arbeit, beängstigende Momente in der Türkei und die Begeisterung der Fans.

SPORT1: Herr Gisdol, Sie kommen in der Türkei sehr gut an. Sie wirken so nahbar. Was sagen Sie dazu?

Markus Gisdol: Es hat einfach von Anfang an gepasst. Ich wurde vom ersten Tag an herzlich aufgenommen und mit offenen Armen empfangen. Das war beeindruckend für mich. Deshalb verlief der Start auch problemlos. Nach der Kontaktaufnahme seitens des Vereins war ich eher zurückhaltend und wollte mir das alles erstmal anhören. Aber während des Gesprächs mit dem Präsidenten und dem Manager entwickelte sich schnell das Gefühl und eine Zuversicht, dass es passen könnte.

{ "placeholderType": "MREC" }

„So war ich noch nie“

SPORT1: Die Fans in der Türkei lieben einen ganz oder gar nicht. Christoph Daum wird bei Fenerbahce Istanbul verehrt. Es gibt das türkische Wort „üclü“, das steht für das deutsche „Humba täterä“. Sie haben dazu vor zwei Wochen mit den Fans derart gefeiert, so kannte man Sie gar nicht.

Gisdol: Ich habe mich auf diese Kultur eingelassen, möchte mich nach Spielen aber nicht in den Vordergrund drängen. So war ich noch nie. An dem besagten Abend musste ich das einfach machen. Unser Kapitän kam zu mir und meinte: ‚Die Fans erwarten das.‘ Also bin ich vor die Kurve gegangen und habe mit den Fans gefeiert. Grundsätzlich denke ich, wie schon erwähnt, dass ich als Trainer nicht die Hauptperson bin. Die Spieler bringen die Leistung auf dem Rasen.

SPORT1: Aber es macht Sie doch sicher stolz.

Gisdol: Natürlich macht mich das stolz, es ist ein schönes Gefühl. Es wäre auch falsch, wenn man das nicht zulassen würde. Es ist unfassbar, was in der Stadt los ist. Für mich ist es einfach schön, wie euphorisch und emotional mit mir umgegangen wird. Das freut mich wirklich sehr. Dass wir gleichzeitig in jedem Spiel weiter Vollgas geben müssen, das ist jedem bewusst.

Wenn du hier klickst, siehst du X-Inhalte und willigst ein, dass deine Daten zu den in der Datenschutzerklärung von X dargestellten Zwecken verarbeitet werden. SPORT1 hat keinen Einfluss auf diese Datenverarbeitung. Du hast auch die Möglichkeit alle Social Widgets zu aktivieren. Hinweise zum Widerruf findest du hier.
IMMER AKZEPTIEREN
EINMAL AKZEPTIEREN

„Ich muss und möchte mich anpassen“

SPORT1: Wieviel Türkisch können Sie eigentlich schon?

{ "placeholderType": "MREC" }

Gisdol: Ich versuche jede Woche etwas zu lernen. Die Begrüßung, einige Wörter für das Training und einige Höflichkeitsformen kann ich. Es gehört für mich dazu, dass man sich auch die gängigen Wörter aneignet, wenn man die Kultur annehmen möchte. Ich habe Respekt vor der Religion und der Kultur. Ich muss und möchte mich anpassen an die Leute, mit denen ich jeden Tag zu tun habe. Es ist mir sehr leicht gefallen, weil ich so warmherzig aufgenommen wurde. Natürlich kann ich schon einiges auf Türkisch sagen, aber die Hauptkommunikation findet auf Englisch statt. Es wird auch mit einem Dolmetscher gearbeitet.

SPORT1: Haben Sie sich - abgesehen von Ihrer zukünftigen Mannschaft - vorher informiert über die Türkei und die Süper Lig?

Gisdol: Nein, das nicht. Egal, wo ich war, ich wollte mir immer meinen eigenen Eindruck verschaffen, so auch in Samsun. Danach spreche ich mit den Leuten über ihre Erfahrungen. Ich möchte meine Aufgaben immer ohne irgendwelche Vorbehalte - positiver wie negativer Art - angehen. Ich sammele lieber meine eigenen Eindrücke.

Spielstil passt zur Mannschaft

SPORT1: Sie haben den Klub sportlich auf ein anderes Niveau gehoben und lassen einen sehr ansehnlichen Fußball spielen. Hätten Sie gedacht, dass Ihre Arbeit so schnell fruchtet?

Gisdol: Es gab in der Mannschaft einen großen Durst nach einem Spielstil, den ich gemeinsam mit den Spielern entwickelt habe. Ich hatte mir vorher bereits alle Spiele auf Video angesehen und den Eindruck gewonnen, dass ich mit diesem Team meinen Spielstil mit aggressivem Pressing, schnellem Umschalten und temporeichem Fußball sehr gut umsetzen kann. Meine Grundidee von Fußball passt ausgezeichnet zu den Spielertypen, die wir haben. Es hat sofort Früchte getragen, und die Jungs sind bereit, diesen Weg anzunehmen.

{ "placeholderType": "MREC" }

SPORT1: Es gibt bei Samsunspor einen Eigner, der im Schiffshandel tätig ist. Er gibt sehr viel Geld, ist ein echter Gönner. Wohin geht die Reise?

Gisdol: Das ist für mich zum jetzigen Zeitpunkt schwierig einzuschätzen. Die Strukturen sind in jedem Land und in jedem Klub unterschiedlich. In der Türkei ist es sehr stark vom Präsidenten geprägt. Er hat sehr viel Macht, und man kann einiges entwickeln, wenn das Zusammenspiel zwischen dem Präsidenten, dem Sportchef und dem Trainer passt. Die Struktur ist grundsätzlich eine andere als in Deutschland.

SPORT1: Ihr Assistent Erdinç Sözer hat jahrelang mit Bruno Labbadia zusammengearbeitet. Ist Sözer nun ein wichtiger Faktor für Sie?

Gisdol: Jeder Assistent hat bei mir eine wichtige Funktion. Edi kam als Letzter, weil wir noch einen türkischsprachigen Co-Trainer gesucht haben. Denn dann kann man die Verbindung zu den Spielern schneller herstellen. Ich sehe das aber als Team, nicht nur Edi ist wichtig. Es gibt noch Jakob Braun (Videoanalyst, d. Red.) und Guido Kadziora. Und dann ist da auch Zsolt Petry, den ich in Hoffenheim als Torwarttrainer hatte. Unser Athletiktrainer ist Türke, spricht sehr gut Englisch und hat auch schon bei Fenerbahce gearbeitet. Es passt im Team alles gut zusammen. Jeder hat eine wichtige Aufgabe und kennt seine Rolle.

SPORT1: Im türkischen Fußball herrschte zuletzt große Aufregung und Unruhe. Es gab beim Ankaragücü-Spiel Gewalt gegen Schiedsrichter und der türkische Supercup zwischen Galatasaray und Fenerbahce wurde nicht angepfiffen. Auf den Rängen herrschte zuweilen große Gewalt. Jetzt hat sich die Lage deutlich beruhigt. Wie fühlen Sie sich?

Gisdol: Ich bin schon sehr erleichtert. Es ist gut für den gesamten türkischen Fußball. Es gab schlimme Szenen, die dem Fußball extrem geschadet haben. Das will keiner sehen. Die Süper Lig ist gerade auf einem guten Niveau, und solche Vorfälle schaden dem Ansehen des türkischen Fußballs. Es gibt die beiden Topklubs Fenerbahce und Galatasaray sowie einige Vereine, die oben mitspielen. Aber auch der Rest der Liga hat ein sehr ordentliches Niveau. In den Akademien wird mittlerweile sehr gute Jugendarbeit geleistet, und es entsteht etwas. Allein bei uns gibt es vier Trainingsplätze nur für Jugendspieler. Es gibt so viele Talente, da kommt noch viel nach. Ich bin froh, dass jetzt etwas Ruhe eingekehrt ist. Jetzt können wir uns wieder nur auf den Fußball konzentrieren. Der Fußball in der Türkei ist auf dem Vormarsch, das sieht man auch an den Ergebnissen der Nationalmannschaft.

„Angst hatte ich nie“

SPORT1: Hatten Sie in der schlimmen Zeit auch mal Angst?

Gisdol: Nein, Angst hatte ich nie. Ich war einfach geschockt, als ich die Bilder gesehen habe. Jeder hat den Kopf geschüttelt, auch die Türken.

SPORT1: Sie waren Trainer von Lokomotive Moskau. Damals gaben Sie aufgrund des russischen Einmarschs in die Ukraine bekannt, mit sofortiger Wirkung von Ihrem Amt zurückzutreten. Sie konnten nicht Ihrer Berufung in einem Land nachgehen, dessen Staatsführer einen Angriffskrieg mitten in Europa verantwortet. Einige wie Marvin Compper konnten das nicht verstehen.

Gisdol: Das muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Für mich selbst war die Entscheidung alternativlos. Ich bin gegangen, als der Krieg begonnen hatte. Die Arbeit mit der Mannschaft in den Wochen zuvor war wirklich gut. Es hat mir großen Spaß gemacht. Das Trainingslager im Winter war top vorbereitet. Die Saison wäre losgegangen, als leider der Krieg begann. Es war sehr schade, dass wir den sportlichen Weg nicht so weitergehen konnten. Ich wäre gerne länger geblieben, aber mir persönlich und als Familienvater blieb keine andere Wahl.

SPORT1: Wie würden Sie die Süper Lig im Vergleich mit der Bundesliga einschätzen?

Gisdol: Ich arbeite jetzt zum zweiten Mal im Ausland. Jede Liga hat ihren eigenen Spielcharakter und ihre eigene Kultur. Vieles hat sich im türkischen Fußball sehr positiv entwickelt. Ein direkter Vergleich zur Bundesliga fällt schwer. Ich möchte auch keine Wertung vornehmen. Die Süper Lig hat ihren ganz besonderen Reiz, gerade was die Liebe der Fans zum Fußball angeht. Die Emotionen sind unglaublich.

SPORT1: Was hat die Türkei mit Ihnen als Trainer gemacht?

Gisdol: Ich vergleiche das etwas mit meiner Zeit in Hoffenheim. Damals haben wir viel entwickelt, mit einer jungen Mannschaft und leidenschaftlichem Angriffsfußball für Furore gesorgt. Wir haben zuerst aus auswegloser Situation heraus die Klasse gehalten, und danach mehr als zwei Jahre lang viel gemeinsam entwickelt und erlebt. Ich fühle mich an diese Zeit erinnert. Ich kann mit einer tollen, hungrigen Mannschaft meinen Spielstil und meine Idee von Fußball ausleben. Ein schönes Gefühl.

SPORT1: Und die überhöhten Erwartungen? Wie konnten sie diese im Zaum halten.

Gisdol: Indem ich die Dinge realistisch einschätze und mich nicht nur von Emotionen leiten lasse. Wir waren zu Beginn abgeschlagen Letzter, hatten einen Punkt aus sieben Spielen. Jetzt sieht die Lage besser aus. Dennoch haben wir immer noch einen harten Weg vor uns in den kommenden Monaten. Wir dürfen keinen Millimeter nachlassen.

„Ich bin kein Retter“

SPORT1: Sie haben aber Retter-Qualitäten, haben mit Hoffenheim, mit dem HSV und mit dem 1. FC Köln die Klasse gehalten.

Gisdol: Ich bin kein Retter. Ich sehe mich als Entwickler. In Hoffenheim kam ich und hatte nur sieben Spiele Zeit. In Hamburg und beim FC kam ich am 6. bzw. 12. Spieltag, da konnte ich einen Spirit und die Struktur in der Mannschaft entwickeln. Für mich war und ist es wichtig, meinen Stil auf die passenden Spieler anzupassen. Das ist mir in Hoffenheim zweieinhalb Jahre lang ganz gut gelungen. Aber ich bin auch nicht naiv. Schlechte Ausgangslagen und Ergebnisdruck gehen mit entwickelnden Maßnahmen nur selten einher. Da muss in einem Verein vieles zusammenpassen, wenn man als Trainer die nötige Zeit bekommen will, auch mal eine Krise zu überstehen.

SPORT1: Fühlten Sie sich in Köln ungerecht behandelt, obwohl Sie auch da das Saisonziel erreicht haben?

Gisdol: Jeder Verein beziehungsweise jede Station hat seine eigene Geschichte. Wir waren auf einem guten Weg, doch dann kam Corona. Das hat mir als Trainer und mit meinem Ansatz sehr geschadet. Es war keine einfache Zeit. Man durfte sich nicht mehr gemeinsam umziehen und auch teilweise nicht zusammen trainieren. Das Herzstück meiner Arbeit war der Teamspirit. Mir waren die Hände gebunden. Die Basis wurde mir entzogen - und trotzdem haben wir am Ende das Saisonziel Klassenerhalt erreicht.

SPORT1: Sie haben nur bis Sommer unterschrieben. Warum?

Gisdol: Ich habe das gleiche wie schon zuvor in Hamburg und in Köln gemacht. Ich brauche keinen langen Vertrag. Ich möchte mir immer einen gewissen Handlungsspielraum lassen, bevor ich dann in Ruhe über den nächsten Schritt nachdenken kann. Für den Verein ist das auch fair. Im Sommer werden wir uns wieder unterhalten.

„Noch habe ich nichts erreicht“

SPORT1: Sie hätten nichts dagegen, wenn Sie die Samsun-Fans im Sommer auf den Händen durch das Stadion tragen würden, ähnlich wie es die Fenerbahce-Fans einst mit Christoph Daum gemacht haben.

Gisdol: Irgendwie lasse ich diesen Gedanken nicht zu, und auch das Bild nicht. Noch habe ich nichts erreicht. Sollten wir den Klassenerhalt geschafft haben, werden die Dinge schon ihren Lauf nehmen.

SPORT1: Wann sehen wir Sie nochmal in der Bundesliga?

Gisdol: Meine Auslandserfahrung ist so wertvoll. Das hat mich als Trainer nicht schlechter gemacht. Ich habe mich weiterentwickelt - auch als Mensch. Mein totaler Fokus liegt jetzt auf Samsunspor. Da, wo ich gerade bin, gebe ich alles. Was in der Zukunft passiert, werden wir sehen.