Im August 2020 übernahm er zur Überraschung vieler Tifosi und italienischen Journalisten das prestigeträchtige Traineramt bei Juventus Turin. Zwei Jahre später findet er sich bei einem mittelmäßigen Klub in der türkischen Süper Lig wieder. Ein sportlicher Abstieg, der seines gleichen sucht. Doch um wen geht es?
Absturz einer Legende
Die Rede ist von Juve-Legende und einem Weltmeister von 2006: Andrea Pirlo.
Der 43-Jährige, der während seiner aktiven Karriere im Mittelfeld zauberte und unzählige Titel sammelte, darunter zweimal die Champions League und sechsmal die italienische Meisterschaft, kann in seiner Laufbahn als Trainer noch nicht auf derartige Erfolge zurückblicken.
SPORT1 wirft einen Blick auf seine bisher kurze und rasante Trainerkarriere.
Juve eine Nummer zu groß?
Pirlo wurde im August 2020 zum neuen Cheftrainer bei Juventus berufen. Nur wenige Tage zuvor hatte er die U23 übernommen, weshalb seine Beförderung äußerst überraschend war. „Heute beginnt er ein neues Kapitel seiner Karriere in der Welt des Fußballs“, hieß es bei seiner Vorstellung. Bei der Alten Dame löste er Maurizio Sarri ab, der mit Juve immerhin italienischer Meister wurde. Nach dem Aus im Achtelfinale der Champions League zogen die Verantwortlichen jedoch die Reißleine. Sarris Fußball war vor allem den Fans ein Dorn im Auge und konnte nicht mit der Klasse seines Vorgängers Massimiliano Allegri mithalten.
Nun sollte Pirlo bei seiner ersten Station als Cheftrainer dem Verein neues Leben einhauchen und seine erfolgreiche Zeit als Spieler als Coach wiederholen. Bei den Tifosi kam die Verpflichtung gut an. Pirlo, ein Maestro im Mittelfeld und ein exzellenter Fußballer, sollte seine Spielintelligenz auf seine Spieler projizieren und durch taktische Kniffe die Bianconeri zum nationalen und internationalen Ruhm führen.
Doch es lief nicht wie gewünscht. Am Ende der Saison 2020/21 landete sein Team nur auf dem vierten Tabellenplatz der Serie A. Inter Mailand kürte sich mit dickem Abstand zum Meister und Italien hatte erstmals nach neun Jahren Juve-Dominanz einen neuen Sieger des Scudettos.
Auch das Aus gegen den FC Porto im Achtelfinale der Champions League konnte nicht verhindert werden. Als großer Favorit ging Pirlos Team damals in das Duell. Nach einem 1:2 im Hinspiel erkämpften sie sich zuhause ein 3:2, was wegen der damaligen Auswärtstorregel zu wenig war.
Auch Allegri verzweifelt an der Alten Dame
Am Ende stand lediglich die gewonnene Coppa Italia und der italienische Supercup zu Buche. Zu wenig für einen Verein wie Juve und es sollte ein ähnliches Schicksal folgen wie bei seinem Vorgänger. Nach einer Spielzeit war Schluss.
Nach seiner Amtszeit betonte Pirlo, dass er die Erfahrungen auf der Turiner Bank zu schätzen wissen. „Es war eine intensive Saison, an der ich wachsen konnte“, sagte der 43-Jährige im August des vergangenen Jahres im Interview mit dem Athletic und führte weiter aus: „Es war ein Jahr, in dem ich persönlich sehr gewachsen bin.“ Zudem unterstrich er, dass er als Trainer mehr hätte tun können, jedoch nicht an seinem Konzept rüttle - und vermutlich wurde ihm das zum Verhängnis.
Für ihn kam sein ehemaliger Lehrer und Ex-Juve-Coach Allegri zurück auf den heiß begehrten Trainerstuhl.
Juve-Zeit gar nicht so schlecht?
In 52 Spielen, die er als Trainer bestritt, erzielte Pirlo einen Durchschnitt von 2,15 Punkten pro Spiel. Damit landete er sogar in der Top 15 aller Juve-Trainer und ließ Namen wie Carlo Ancelotti, Giovanni Trapattoni oder auch Allegri (in seiner zweiten Amtsperiode) hinter sich.
Auf den ersten Blick keine schlechte Ausbeute, zumal Pirlo in seiner Zeit als Trainer der Bianconeri gleichzeitig mit äußeren Umständen wie dem Coronavirus zu kämpfen hatte.
Im Unterschied zu seinem Nachfolger spielte Juve vor leeren Rängen. Hinzu kam ein enger Zeitplan, über den sich Pirlo beschwerte. Er zeigte sich außerdem nicht zufrieden mit seinem Personal. Die Spieler seien am Ende aber „wichtiger als die Trainer.“
Im Anbetracht dessen, wie die Turiner nach Pirlo gespielt haben, stellt sich die Frage, ob sein Abgang nicht zu früh kam. Pirlo war mit damals 41 Jahren noch ein junger und unerfahrener Trainer. Immerhin war es auch seine erste professionelle Trainerstation und dafür hätte die Bilanz noch verheerender ausschauen können. Vielleicht hätte ihm die Führungsetage mehr Zeit geben müssen.
Engagement in der Türkei
Nach seiner gescheiterten Amtszeit bei Juve blieb der Architekt - wie er von seinen Mitspielern genannt wurde - erst einmal ohne Anstellung, zeigte sich jedoch offen für einen neuen Posten. Er sei bereit gewesen, ein neues Abenteuer zu beginnen und verriet: „Ich würde gerne ins Ausland gehen.“
Und das Ausland sollte ein Jahr später folgen, doch wohlmöglich in einer anderen Ausprägung, als er es sich zu diesem Zeitpunkt ausgemalt hatte. Am 13. Juni 2022 wurde Pirlo beim türkischen Erstligisten Fatih Karagümrük vorgestellt. Der Hype beim Istanbuler Klub war gigantisch. Jedoch auch die Frage, ob dieser Schritt der richtige gewesen ist, denn meistens wird ein Wechsel in die Türkei eher mit einem Karriereabstieg oder gar dem nahenden Karriereende assoziiert. Außerdem zählt Karagümrük nicht einmal zu den Top-Adressen der Süper Lig.
Kurz nach seiner Ankunft war die riesige Euphorie verschwunden. Pirlo startete mit zwei bitteren Niederlagen und vor allem die Abwehrleistung war besorgniserregend. Satte acht Gegentore kassierte sein Team und auch Pirlo schimpfte: „So können wir nicht weitermachen!“
Zwischenzeitlich hat sich sein Team gefangen. Angesichts dessen, dass Karagümrük weder ein eigenes Stadion noch ein eigenes Trainingszentrum hat, scheint ein Mittelfeldplatz nach einem Drittel der Saison gar nicht so schlecht. Zuletzt schoss Pirlos Mannschaft bei zwei Siegen in Folge jeweils drei Tore. Davor und danach setzte es allerdings Niederlagen gegen die Top-Teams Fenerbahce (4:5) und Galatasaray (0:2).
War Pirlo auf Barcas Radar?
Möglicherweise wählte Pirlo Karagümrük bewusst aus, um ohne jegliche Aufmerksamkeit außerhalb der Türkei als Trainer zu reifen. Wenn die Ergebnisse weiterhin stimmen, könnte sein Intermezzo noch verlängert werden. Sein Vertrag bei den Türken läuft jedenfalls noch bis zum Ende der Saison.
Aber Pirlo hätte es nach Juve beinahe zum nächsten Top-Klub ziehen können. Angeblich soll der Italiener heißer Anwärter auf den Trainerposten beim FC Barcelona gewesen sein. Laut der spanischen Zeitung Sport hätte er dort Ronald Koeman beerben sollen.
Vor allem Barca-Präsident Joan Laporta hatte sich für Pirlo eingesetzt. Bei sämtlichen Führungsspielern kam die Idee, Pirlo als neuen Trainer zu berufen, jedoch nicht gut an. Stattdessen übernahm der ehemalige Mittelfeld-Stratege Xavi, der zuvor Trainer in Al-Saad war. Dort sammelte er wichtige Erfahrung als Trainer und soll seit der vergangenen Saison mit Barca wieder an alte Zeiten anknüpfen.
Und auch wenn es unter der Führung des Spaniers nicht optimal läuft, hat er die Rückendeckung seines Klubs. Rückendeckung, die Juve bei Pirlo nicht gänzlich genossen hat.
Der Name Pirlo scheint somit noch nicht ganz aus den Köpfen der europäischen Top-Klub-Bosse verschwunden zu sein und möglicherweise schenkt ihm in Zukunft einer dieser Vereine das nötige Vertrauen. Mit gerade einmal 43 Jahren steht dem ehemaligen Mittelfeld-Ass noch eine lange Trainierkarriere bevor.