Christian Schwarzer hat als Handballer alles gesehen: Ganze sechs Weltmeisterschaften bestritt er als Kreisläufer für die deutsche Nationalmannschaft (51 Spiele). 966 Tore in 319 Länderspielen lautet seine beeindruckende Bilanz. Auch nach seiner aktiven Karriere, die 2009 endete, ist „Blacky“ dem Handball treu geblieben, arbeitet seit vielen Jahren als Jugendkoordinator beim Handballverband Saar.
Schwarzer-Kritik: „Gewöhnungsbedürftig“
Im Interview mit SPORT1 blickt er auf die Formkurve der deutschen Mannschaft, die „schwerwiegenden Ausfälle“ und den Druck, der auf den jungen Spielern lastet. Dabei sieht er eine „große Herausforderung“.
Kritisch hinterfragt der 55-Jährige das Format der anstehenden Weltmeisterschaft und sieht vor allem die Fans als Leidtragende. Was den generellen Stellenwert seiner Sportart angeht, äußert er einen klaren Wunsch – und erzählt eine Anekdote zu seiner 81-jährigen Mutter.
SPORT1: Herr Schwarzer, wie bewerten Sie die deutschen Testspiele gegen Brasilien, die letzten Härtetests vor WM-Beginn?
Christian Schwarzer: Ich habe eins gelernt: Testspiele heißen aus einem bestimmten Grund Testspiele. Sie sind dafür da, um Sachen auszuprobieren. Nicht mehr und nicht weniger. Klar ist es schön, wenn du dir mit Siegen Selbstvertrauen holst. Aber schlussendlich zählen dann erst die Spiele beim großen Turnier. Wir haben früher auch immer alles in diese Testspiele investiert, haben die gewonnen und dann ging es ins große Turnier und der Schuss ist nach hinten losgegangen. Daraus habe ich im Laufe meiner Karriere die entsprechenden Lehren gezogen.
Schwarzer sieht schwerwiegende Ausfälle
SPORT1: Wie ist generell Ihr Eindruck von der Mannschaft?
Schwarzer: Durch das tolle Abschneiden bei der EM und bei Olympia wurde eine sehr gute Basis gelegt. Die Ausfälle von Sebastian Heymann und Jannik Kohlbacher sind allerdings schon schwerwiegend. Es gibt Spieler, die jetzt die Möglichkeit haben, sich zu zeigen. Spieler 1 zu 1 zu ersetzen, geht ja sowieso nicht, aber andere Spieler haben ihre eigenen Qualitäten. Wir können weiter auf den zuletzt erzielten Ergebnissen aufbauen und dann beflügeln hoffentlich auch so Ereignisse wie bei Andi Wolff, der Papa geworden ist. Es gibt schließlich auch sehr, sehr positive Dinge, die neben dem Handball passieren.
SPORT1: Sie haben die Ausfälle von Heymann und Kohlbacher angesprochen …
Schwarzer: Die Jungs fehlen leider. Beide sind komplette Spieler, die defensiv und offensiv ihren Beitrag leisten können. Aber dieses Problem mit den Ausfällen gibt es bei den anderen großen Nationen auch. Da sind wir beim Thema Überbelastung. Drei Großveranstaltungen - EM, Olympische Spiele und WM - innerhalb von zwölf Monaten plus Meisterschaft, Pokal, Champions League und European League mit einem eigenen Ligasystem. Da fragt man sich schon: Wie sollen die Spieler das durchhalten? Schlussendlich sind eben immer die Spieler die Leidtragenden.
SPORT1: Sehen Sie Ansätze, wie dieses Problem gelöst werden kann?
Schwarzer: Die perfekte Lösung habe ich auch nicht. Die Herausforderung alle vier Jahre, wenn die Olympischen Spiele noch dazukommen, ist eine ganz besondere für die Spieler, weil das Pensum so dermaßen hoch ist. Die Regeneration kommt zu kurz, Verletzungen sind eine Folge. Ich weiß auch, dass wir mit unserer Sportart präsent sein müssen und wollen, um mit den anderen Sportarten Schritt halten zu können. Vielleicht müsste man tatsächlich darüber nachdenken, ob man im olympischen Jahr ein anderes Turnier – eine EM oder WM – weglässt, um die Belastung für die Nationalspieler ein bisschen erträglicher zu gestalten.
Schwarzer: „Jeder Spieler ist eine Bereicherung“
SPORT1: Kommen wir zurück zur deutschen Mannschaft …
Schwarzer: Wir haben viele Jungs, die auf diesen beiden Positionen in die Bresche springen können. Es gibt mit Johannes Golla einen Kapitän, der seit vielen Jahren mit Persönlichkeit und Präsenz, aber in erster Linie mit Leistung vorangeht. Die ist immer das Allerwichtigste, um sich einen solchen Status zu erarbeiten. Dahinter sind wir mit Justus Fischer auf der Kreisläuferposition gut aufgestellt. Auf Heymanns Position hat sich Marko Grgic in Eisenach super weiterentwickelt. Ihn beobachte ich besonders, weil er aus dem Saarland kommt und auch bei mir beim Handballverband Saar trainiert hat. Er war jetzt zur richtigen Zeit am richtigen Ort, mit dem richtigen Trainer beim richtigen Verein, das hat bei alles perfekt zusammengepasst. Außerdem gibt es noch Luka Witzke und Julian Köster. Jeder Spieler ist mit seinen Fähigkeiten eine Bereicherung für die Mannschaft.
SPORT1: Wie sehen Sie die Favoritenrolle bei der Weltmeisterschaft verteilt?
Schwarzer: Dänemark ist für mich in einer eigenen Liga. Dahinter folgt der erweiterte Favoritenkreis, zu dem auch Deutschland gehört. Slowenien, Frankreich, Spanien, Schweden und Norwegen als Mit-Gastgeber - es gibt so viele tolle Nationen, die um den Titel mitspielen können. Das macht das Ganze so interessant und. Dazu kommen noch Teams, für die es toll ist, überhaupt bei einer Weltmeisterschaft dabei zu sein. Das macht diesen besonderen Reiz eines so großen Turniers aus.
SPORT1: Es gibt mit Dänemark, Norwegen und Kroatien drei Gastgeber …
Schwarzer: Das ist für mich persönlich sehr gewöhnungsbedürftig. Die Turniere, die ich spielen durfte, haben in einem Land stattgefunden. Dort konnte eine Euphorie ausgelöst werden. Ja, 16 Teams bleiben erstmal in Kroatien, aber nichtsdestotrotz findet das Finale in Oslo statt. Und auch die Zuschauer können nicht in einem Land bleiben. Einige werden sicherlich mehrere Teams haben, die sie gerne sehen möchten. Man hätte zumindest drei Nachbarländer nehmen können, das hätte für mich ein bisschen mehr Sinn gemacht. Auf der anderen Seite: Im Fußball ist es ja noch extremer, da findet eine WM auf unterschiedlichen Kontinenten statt. Ich bin aber nicht derjenige, der diese Entscheidung trifft. Sportlich wird es sicher ein tolles Turnier. Aber es, was die Zuschauer angeht, ein genauso tolles Turnier wird, weiß ich nicht. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.
Zu hoher Druck für DHB-Youngster?
SPORT1: Alfred Gislason hatte zuletzt die Sorge geäußert, dass die Erwartungen an Youngster Renars Uscins zu hoch sein könnten. Bei den vergangenen Turnieren war es bei Juri Knorr ähnlich, der Druck war teilweise zu hoch. Haben Sie das Gefühl, das könnte auch bei Uscins passieren?
Schwarzer: Er macht auf mich bisher nicht den Eindruck, dass ihn das belastet. Aber es sind nur Menschen, die da herumlaufen und keine Maschinen, die ich ein- und ausschalte und sage, jetzt musst du funktionieren. Es sind Menschen - und die zeigen natürlich auch menschliche Reaktionen. Bei Juri hat man es gesehen, dass seine Spielweise und seine Leistung ein bisschen darunter gelitten hatten. Ich hoffe, dass das bei Renars nicht der Fall sein wird, sondern dass er weiter mit der gleichen Unbekümmertheit und Unbeschwertheit spielt. Es wird eine wichtige Aufgabe der Mannschaft um die Mannschaft sein, ihn beziehungsweise das gesamte Team so gut wie möglich abzuschotten. Pressetermine gehören dazu und müssen wahrgenommen werden, aber ansonsten geht es darum, die Mannschaft zu schützen, damit sie sich auf das Wesentliche konzentrieren kann, nämlich auf die Leistung auf dem Spielfeld. Theoretisch musst du den Jungs sagen: ‚Gebt die Handys ab. Nach dem Finale kriegt ihr sie wieder.‘ Um wirklich frei zu sein und sich nicht mit irgendwelchen Dingen zu beschäftigen. Früher hat man am nächsten Tag in die Zeitung geschaut, aber heute werden Dinge in Bruchteilen von Sekunden in die Welt getragen. Das ist die größte Herausforderung, sich davon nicht ablenken zu lassen.
SPORT1: Worauf wird es für Deutschland ankommen?
Schwarzer: Grundlage werden ein stabiles Torhütergespann und eine sehr gute Abwehr sein. Das ist natürlich keine Neuigkeit, die ich hier erzähle, aber die Verteidigung gewinnt nun einmal Meisterschaften. Im Angriff haben wir viele Optionen. Und was mir besonders wichtig ist: Dass eine Begeisterung bei den Zuschauern entfacht werden kann und die Einschaltquoten bei ARD und ZDF dementsprechend positiv sind. Das kann unserer gesamten Sportart bei der Akquise von Nachwuchs und Sponsoren enorm helfen. Ich hoffe, dass wieder ein kleiner Hype entsteht, was den deutschen Handball anbelangt.
SPORT1: Haben Sie konkrete Wünsche, was die Übertragung von Live-Handball angeht?
Schwarzer: Ich weiß, dass sich gerade vieles verändert. Wenn ich mit Kindern spreche, dann fragen die mich manchmal: ‚Ja, was ist denn ARD und ZDF?‘ Die kennen Netflix, Amazon Prime und was weiß ich nicht alles. Dyn macht das gut, Sky hat es früher klasse gemacht. Aber schlussendlich sieht es nicht die breite Masse. Und wenn man die Einschaltquoten sieht, wenn die deutsche Mannschaft erfolgreich bei den großen Turnieren spielt, dann geht es schnell mal in den zweistelligen Millionenbereich. Präsenter als im Januar ist der Handball nie. Und dann - ich will nicht sagen, wir verschwinden wieder von der Landkarte, die Handball-Community schaut sich weiterhin alles an -, aber die großen Zahlen werden bei diesen Turnieren geschrieben. Und ich bin halt noch von dieser älteren Generation. Meine Mama ist 81 und hat nichts mit diesem Internet zu tun. Die guckt jetzt die Spiele im Fernsehen bei ARD und ZDF. Ansonsten sieht sie das ganze Jahr über keinen Handball und das finde ich immer wieder schade. Im Endeffekt gibt es nur die Möglichkeit, über Bezahlung Sport zu sehen. Ich weiß, dass das der Weg heutzutage ist, aber ich würde mir dennoch wünschen, dass es so ein Format, wie bei Dyn oder wie Sky es vorher gemacht hat, auf einem Fernsehsender gibt, den jeder ohne zu bezahlen sehen kann.