Handball-Legende Heiner Brand weiß, wie man Weltmeister wird. Er hat es als Spieler und Trainer geschafft - damit war er Vorreiter im Männerbereich.
WM-Märchen? Das sagt Ikone Brand
Am Freitag startet die deutsche Nationalmannschaft einen neuen Versuch, den ersten WM-Titel nach der Brand-Truppe 2007 einzufahren. (NEWS: Alles Wichtige zur Handball-WM)
Der 70-Jährige schätzt im SPORT1-Interview Kader und Chancen des DHB-Teams ein, erklärt die Rolle von Hoffnungsträger Juri Knorr und bezieht Stellung zur Debatte um die Bereitschaft, für das Nationalteam aufzulaufen.
SPORT1: Herr Brand, bei den vergangenen großen Turnieren wurden die Ziele verfehlt, nun gab es eine Niederlage und einen Sieg bei den Testspielen gegen Island: Wo steht die deutsche Nationalmannschaft kurz vor ihrem WM-Auftakt?
Heiner Brand: In den letzten Turnieren hat sich gezeigt, dass wir nicht konstant gut genug waren, um in der Spitze mitzuspielen, aber durchaus mit den sogenannten Top-Mannschaften mithalten konnten. Insofern ist es durchaus möglich, bei einer Minimierung der hohen Fehleranzahl mal gegen eine Top-Mannschaft zu gewinnen. Und dann weiß man nie, wie sich so ein Turnier entwickelt. Das kann - wenn es gegen gute Teams gut anfängt - auch mal zu einem Selbstläufer werden. Möglich ist vieles. Man rechnet zwar nicht mit so vielem, aber darin sehe ich auch eine Chance, da nicht so ein großer Druck herrscht.
„Zielsetzung sollte schon das Halbfinale sein“
SPORT1: Welche Zielsetzung halten Sie für angebracht?
Brand: Zielsetzung sollte schon das Halbfinale sein. Es ist zwar ein sehr hohes Ziel, aber das Erreichen der Hauptrunde wäre als Ziel nicht glaubwürdig. Und das Halbfinale ist bei guten Leistungen realistisch.
SPORT1: Wie schätzen Sie die deutsche Vorrundengruppe mit den Gegnern Katar, Serbien und Algerien ein? (DATEN: Spielplan und Ergebnisse der Handball-WM 2023)
Brand: Es ist eine sehr dankbare Gruppe. Katar hat nicht mehr die Stärke, die es bei der Heim-WM 2015 und zwei Jahre danach aufweisen konnte. Serbien hat ein paar bekannte, gut ausgebildete Spieler, aber diese Aufgabe sollte für unsere Mannschaft kein Problem sein. Algerien ebenfalls nicht, auch wenn es immer undankbar zu bespielen ist. Ich gehe von einer Vorrunde ohne Punktverlust für die deutsche Mannschaft aus.
SPORT1: Alfred Gislason hat nach dem ersten Test gegen Island moniert, dass der „zweite Anzug nicht sitzt“. In beiden Partien bekam die erste Sieben sehr viel Spielzeit. Wie bewerten Sie die Qualität des WM-Kaders in der Breite?
Brand: Ich denke nicht, dass ein großer Unterschied zwischen erster und zweiter Aufstellung besteht. Natürlich wird es dominierende Leute geben mit Johannes Golla als Mannschaftsführer und Stabilitätsfaktor sowie Juri Knorr, der ebenso wie Julian Köster eine enorm gute Entwicklung gemacht hat. Diese Spieler werden eine entscheidende Rolle spielen, aber auch die anderen werden nicht abfallen. Klar kann es einen Bruch im Spiel geben, wenn viele oder gar zu viele Wechsel vorgenommen werden. Aber den kann es auch geben, wenn man auf eine Mannschaft setzt. Es ist immer schwierig, 60 Minuten auf einem hohen Niveau zu spielen.
Brand: Diese Verantwortung muss Knorr übernehmen
SPORT1: Juri Knorr war gegen Island der auffälligste Akteur des deutschen Teams, glänzte mit 13 Toren im zweiten Match, im ersten fiel er aber auch mit Ballverlusten und Fehlern in der entscheidenden Phase auf. Ist er als jüngster Spieler im Kader mit seinen 22 Jahren so weit, so viel Verantwortung und die Spielmacherrolle bei einer WM zu übernehmen?
Brand: Die muss er auch übernehmen. Er hat eine sehr gute Entwicklung genommen. Er macht zwar noch einige Fehler, da er ein Spielertyp ist, der das Risiko liebt. Das hat er in seiner Zeit in Minden schon gezeigt. Seitdem hat er sich aber stetig weiterentwickelt. Er übernimmt von seiner Spielweise her einige Verantwortung, sucht viel im Eins-gegen-Eins den Durchbruch und macht freche Würfe aus dem Rückraum. Das Zusammenspiel mit dem Kreisläufer, vor allem Jannik Kohlbacher, ist eine seiner Stärken. Es ist natürlich ein Risiko, auf Knorr zu setzen, aber man muss so einem Mann auch mal die Chance geben. Man muss auch sehen, dass die Spieler, die in den vergangenen Jahren auf der Position Rückraum Mitte eingesetzt wurden, auch Fehler gemacht haben und vom Niveau her nicht besser sind als Knorr. Klar ist er ein Spieler, der sich noch weiterentwickeln wird und muss, ebenso wie Julian Köster, der in den vergangenen eineinhalb Jahren große Fortschritte gemacht hat. (BERICHT: Knorr klärt über Zoff auf - „Er hat mich beleidigt“)
SPORT1: Zuletzt äußerten unter anderem Andreas Wolff und sogar Gislason Kritik daran, dass nicht alle deutschen Handball-Profis, die im passenden Alter und fit sind, für die Nationalmannschaft zur Verfügung stehen. Gislason nannte die Skandinavier, bei denen so etwas nicht denkbar sei. Gibt es ein Einstellungsproblem unter deutschen Handball-Profis?
Brand: Man muss dabei differenzieren. Dass die skandinavischen Spieler besonders gerne in der Nationalmannschaft spielen, liegt daran, dass sie sich freuen, zurück in die Heimat zu kommen und ihre alten Kumpels wieder zu treffen. Das ist eine andere Situation als bei deutschen Nationalspielern. Bei uns gestaltet es sich sicherlich gesamtgesellschaftlich auch so, dass familiäre Dinge angesprochen werden, was bei früheren Generationen nicht so sehr im Vordergrund stand. Klar hatten die Profis auch Familien, aber der Sport stand im Vordergrund. Auch die Vereinstrainer spielen eine Rolle. Sie können ebenfalls Einfluss nehmen auf ihre Spieler, ob diese zur Nationalmannschaft reisen. Aus meiner Zeit als Vereinstrainer weiß ich noch, dass es einige Verantwortliche gab, die ihre Spieler gebremst haben. In meiner Generation sind die Spieler immer gerne zur Nationalmannschaft gekommen, das beobachte ich aber heutzutage genauso. Wenn hin und wieder andere Dinge dazwischenkommen, muss man immer den Einzelfall betrachten.
Handball-WM: Darauf kommt es für Deutschland an
SPORT1: Auf welche Aspekte wird es im deutschen Spiel besonders ankommen, um erfolgreich zu sein?
Brand: Die Abwehr ist immer die Grundlage. Es gibt keinen Weltmeister der vergangenen Jahre oder erfolgreiche Mannschaften, die keinen überragenden Torwart und keine stabile Abwehr hatten. Da wird es vor allem auf den deutschen Mittelblock ankommen, nachdem Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek nicht mehr dabei sind. Es wird interessant sein, mit welchem Partner Golla, der das gut kann, harmoniert. Köster ist ebenfalls ein guter Abwehrspieler, aber bei ihm muss man darauf achten, dass man ihn nicht überfordert, weil er im Angriff auch benötigt wird. Darüber hinaus ist wichtig, die Fehleranzahl zu minimieren. Es gab zuletzt immer zu viele einfache Fehler, vor allen Dingen in den entscheidenden Phasen des Spiels. Das hat mehrfach zu vermeidbaren Niederlagen geführt gegen Mannschaften, die eigentlich nicht besser besetzt sind, wie etwa Spanien, die aber cleverer waren. Unter der Fehlerminimierung dürfen jedoch nicht die Kreativität, Tempo und Freude im Angriffsspiel leiden. Die Spieler müssen sich der Verantwortung für den Ball bewusst sein. Einfache Fehler zu machen, kann eine Mannschaft zurückwerfen.
SPORT1: Die bisherigen Turniere unter Gislason waren nicht von positiven Ergebnissen gekrönt. Wie groß ist der Erfolgsdruck für den Bundestrainer und ist die WM eher als Zwischenstation vor Heim-EM zu sehen?
Brand: Dieser Druck ist in Deutschland immer vorhanden. Geduld für Aufbauarbeit wird selten gezeigt. Es gibt eigentlich keine Zwischenstation für eine deutsche Mannschaft. Es wird bei jedem Turnier erwartet, dass man gut abschneidet - ob das immer gelingt, ist etwas anderes. Es wäre mit Sicherheit gut, jetzt ein positives Turnier zu spielen, um auch das nötige Selbstvertrauen in die Waagschale werfen zu können, wenn die EM nächstes Jahr in der Heimat stattfindet. Mit dem vorhandenen Druck muss man als Trainer umgehen können - und Alfred mit seiner Erfahrung wird dazu in der Lage sein.