Der Schock nach dem 17. Spieltag saß tief.
Letzte Hoffnung einer stolzen Region
Der TBV Lemgo war auf den letzten Tabellenplatz der DKB HBL abgerutscht. Coach Niels Pfannenschmidt musste gehen.
Retten soll den Meister von 2003 dessen ehemaliger Assistent, der wie kein Zweiter für den Traditionsklub steht: Florian Kehrmann.
Der Druck, der auf ihm lastet, ist gewaltig. Er hat einen Auftrag - in Lemgo, für Lemgo. Er ist die Hoffnung einer ganzen Region. Seinem Klub aber blieb gar keine andere Wahl.
Gewaltige Reputation
Kehrmanns Reputation im Lipperland ist riesig.
Der 37-Jährige war drei Mal Deutschlands Handballer des Jahres, er holte mit dem DHB-Team 2007 den Weltmeistertitel, gewann mit dem TBV Meisterschaft, DHB- und EHF-Pokal, spielte 15 Jahre auf höchstem Niveau.
"Flo war der letzte von der Erfolgsgeneration in Lemgo. Als er aufgehört hat, ist ein Vakuum entstanden. Er versucht das jetzt als Trainer auszufüllen", erklärt der SPORT1-Experte, ehemalige Welthandballer und frühere Mitspieler Daniel Stephan.
Der ehemalige Weltklasseaußen weiß um die Erwartungen, die die Leute in ihn setzen.
"Lemgo steht für Handball, für Bundesliga und für Erfolg. Ich glaube, dass wir auf dem letzten Tabellenplatz standen, hat viele wachgerüttelt", sagt er vor dem Spiel gegen die HSG Wetzlar im Gespräch mit SPORT1."Die Situation ist kritisch."
Verschärfter Abstiegskampf
Lemgo droht das prominente Opfer des verschärften Abstiegskampfes zu werden. Vier statt drei Mannschaften werden absteigen. Viele Teams unten drin kennen den Abstiegskampf aus dem Eff-eff. Lemgo nicht. Das Selbstverständnis leidet.
Seit 30 Jahren spielt der TBV Bundesliga. Die Menschen aus dem ehemaligen Fürstentum sind stolz auf ihre Eigenständigkeit. Und ihr Handballklub steht sinnbildlich für diesen Stolz.
Doch die Lage ist ernst: Fünf Punkte sind es trotz des 32:28 bei Kehrmanns Debüt in Hamburg auf den rettenden 15. Platz.
Er habe die Aura
Der neue Coach setzt in der Krise auf eine Mischung aus Pragmatismus und Spaß. "Wir denken und handeln in ganz kleinen Schritten", schildert er. Die Fehleranalyse ist längst gemacht. Vorgänger Pfannenschmidt galt als akribischer Taktikfuchs. Ihm habe aber die Aura Kehrmanns gefehlt, heißt es.
"Das Entscheidende war, dass wir nicht gut in die Saison reingekommen sind. Im Jahr zuvor haben wir frühzeitig Punkte gesammelt und Sicherheit daraus gewonnen. Diesmal nicht. Da kommen Selbstzweifel auf", meint indes Kehrmann.
Seine erste Maßnahme: Abzuschließen mit dem, was war. "Wir gucken nur noch nach vorne", erzählt er. "Was zählt, ist, was auf dem Spielfeld passiert und täglich im Training erarbeitet wird. Daran werde ich die Jungs messen, und sie mich." Pragmatismus pur.
Emotionale Bindung
Diese Einstellung und Kalkül führten in seine Beförderung. Im Mai ermöglichte der TBV Kehrmann zum Ende seiner Spielerkarriere ein Abschiedsspiel.
Unter Tränen schritt er minutenlang durch die Lipperlandhalle. Die Fans klatschten unablässig Beifall. Es ist diese emotionale Bindung, auf der alle Hoffnungen ruhen. Denn die Stimmung drohte zu kippen.

Kehrmann soll beschwichtigen. Dabei ist er eher untypisch für seine Trainergeneration.
"Am Ende zählt nur das Siegen, dass Du das lebst. Das müssen wir wieder verinnerlichen. Innovativ ist für mich gewinnen, mehr nicht", sagt er und setzt auf Tugenden: Wille, Einsatzbereitschaft und Kampf.
Spielzüge und Taktiken studiert er zwar stundenlang per Video. Doch Sportwissenschaft ist nicht seins. Er packt seine Jungs lieber bei der Ehre. Sie vertrauen ihm wie einem Anführer, heißt es.
Kretzschmar kritisiert
Es gab aber auch Bedenken. SPORT1-Experte Stefan Kretzschmar fragte nach tatsächlichen Impulsen. Kehrmann habe schließlich schon während der Talfahrt Verantwortung getragen.
An ihm selbst perlt Kritik ab. "Er kann als Experte sagen, was er möchte. Ich werde meinen Weg gehen. Experte zu sein, ist sehr einfach. Als Trainer muss man machen, was man für richtig hält und wird daran gemessen", sagt Kehrmann. "Als Experte wird man nie gemessen. Deswegen ist es auch einfach, Experte zu sein."
Aber auch Daniel Stephan hat Bedenken: "Das war die einfachste Lösung - und vielleicht auch eine Geldfrage. Frischer Wind wäre womöglich besser gewesen."
Die Klubchefs sind von Kehrmanns Fähigkeiten überzeugt. Dennoch hatten sie tatsächlich keine andere Wahl. Die Kasse ist chronisch leer. Dem Vernehmen nach macht der TBV zwar keine Schulden.
Aber der Etat ist auf Kante genäht, erfahrenere Trainer wie Velimir Petkovic oder Markus Schwalb hätten nicht ins Budget gepasst. Und finanzielle Abenteuer leistet sich der Klub keine mehr.
60-Millionen-Deal
Zu frisch sind die Erinnerungen an das Chaosjahr 2012. Der Klub stellte Anzeige gegen seinen ehemaligen Sportchef Volker Zerbe wegen angeblicher Bereicherung. Und Geschäftsführer Fynn Holpert musste gehen, nachdem sich ein angeblicher 60-Millionen-Deal mit einem niederländischen Scheininvestor als Luftschloss herausgestellt hatte.
Das Gespött war groß. Schließlich bekam Lemgo 2013/14 die Lizenz nur unter Auflagen. Kehrmann blendet all das aus. Er lebt wie im Tunnel. Nichtabstieg. Das ist seine Aufgabe.
"Die ersten 48 Stunden in meiner Trainerkarriere habe ich nicht viel geschlafen. Die letzten Tage waren sehr intensiv", erzählt er, "es stürzen viele Dinge auf mich ein, aber ich lasse nicht zu viel an mich ran." Er spüre keine Last, sagt er, sondern Vorfreude.
Kernige Aussagen
Es ist diese Geilheit, die er seinem Team mit auf den Weg geben will.
"Viele vergessen: Die Männer, die in der Bundesliga spielen, haben irgendwann mit dem Handball angefangen, weil es ihnen Spaß gemacht hat. Sie hatten so viel Spaß daran, dass sie so viel investiert haben, bis sie es zum Profi geschafft haben", sagt er und wird pathetisch. "Ich weiß, dass die Halle gegen Wetzlar brennen wird. Wir brauchen Zusammenhalt, um die Bundesliga in Lemgo zu erhalten."
Es sind kernige Aussagen. Eine ganze Region schöpft Hoffnung daraus.