Die Heim-EM ist vorbei, Deutschlands Handball-Nationalteam hat das Turnier mit einer Niederlage um Bronze gegen Schweden als Vierter beendet, nachdem zuvor auch das Halbfinale gegen den späteren Vizeeuropameister Dänemark verloren gegangen war.
DHB-Zoff: Hanning kontert Gislason
Ein zufriedenstellendes Ergebnis oder wäre mehr drin gewesen? Daran scheiden sich die Geister, auch noch Tage danach. In der Debatte um die Deutungshoheit zur EM liegen nicht zuletzt auch Bundestrainer Alfred Gislason und Bob Hanning über Kreuz.
Im SPORT1-Interview stellt der Geschäftsführer der Füchse Berlin und ehemalige Vizepräsident des Deutschen Handball-Bunds (DHB) nun abermals seine Sicht der Dinge dar - und wird dabei deutlich.
Hanning über Gislason: „Nichts mit Eigeninteresse zu tun“
SPORT1: Herr Hanning, Alfred Gislason hat Ihre inhaltliche Kritik an seiner Personalpolitik während der EM mit den Worten beantwortet, Sie wären „keine Koryphäe des Welthandballs“, der man zwingend zuhören müsse. Hätten Sie sich eine andere Reaktion erhofft?
Bob Hanning: Ich bin ein Mensch, der nie in der Person, sondern immer in der Sache streitet. Und dabei möchte ich es auch gerne halten.
SPORT1: Nach Ansicht von Gislason ist Ihre Kritik von Eigeninteresse getrieben, zumal Ihr Schützling Nils Lichtlein im Turnier auch nur selten zum Einsatz kam. Ihre Antwort darauf?
Hanning: Darum ging es und geht es mir überhaupt nicht. Es geht mir grundsätzlich um den Einsatz von jungen Spielern. Wenn wir Renars (Uscins Anm. d. Red.) gesehen haben, der aufgrund des Fernbleibens von Kai Häfner seine Einsatzzeiten bekommen hat, ist schnell klar geworden, wozu er in der Lage ist. Wer sich die Leistung von Nils Lichtlein gegen Kroatien anschaut, wird keine vergleichbaren 15 Minuten eines anderen deutscher Spielers finden, so viele Chancen hat er herausgespielt - leider konnten seine Mitspieler nicht alles verwerten. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass er häufiger spielt. Nils hätte Juri Knorr entlasten können und dem deutschen Team einfach gutgetan. Der Einsatz von jungen Spielern prägt mich seit Jahren, auch bei den Füchsen. Das hat rein gar nichts mit Eigeninteresse zu tun, sondern mit der Tatsache, dass ich an die Jungs glaube. Und gerade in Richtung des „Jahrzehnt des Handballs“ sollten wir die jungen Spieler schnellstmöglich integrieren.
„Unser Angriffsspiel hat nichts Besonderes gehabt“
SPORT1: Haben Sie das Gefühl, dass Handball-Deutschland die richtigen Lehren aus dem Turnier ziehen wird? Oder läuft man Gefahr, sich mit Platz vier zu sehr zufrieden zu geben?
Hanning: Erst mal bin ich der Meinung, dass wir eine herausragende Deckungsleistung im Verbund mit einer überragenden Torhüterleistung gezeigt haben. Alleine, dass wir die Dänen in ein Sieben-gegen-Sechs gezwungen haben, ist ein riesiges Kompliment. Mit Golla und Köster hat das sehr gut funktioniert. Nur die Franzosen haben es im Turnier überhaupt geschafft, gegen das Sieben-gegen-Sechs der Dänen ein Mittel zu finden - was das angeht, sind wir auf jeden Fall reif für eine Medaille. Das ist wichtig im Kontext. Allerdings hat unser Angriffsspiel nichts Besonderes gehabt. Die Missachtung der zweiten Reihe hat am Ende dazu geführt, dass unsere Leistungsträger hinten raus nicht mehr die nötige Kraft hatten. Wir hatten dieses Turnier bewusst nach Deutschland geholt, um uns direkt für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Und bei der Analyse nach fünf nicht gewonnenen Spielen sowie einem glücklichen Sieg gegen Island darf man auch mal sagen, dass nicht alles gut war. Dafür muss man keine Koryphäe sein, um das zu erkennen.
SPORT1: Passend dazu: Die deutschen Spieler wollten unabhängig vom Ausgang des Spiels um Platz 3 auf einen Jubel-Empfang hinterher in Köln verzichten. Mit der Begründung, es hätte sich falsch angefühlt nach dem verlorenen Halbfinale. Fanden Sie das gut - Stichwort: Siegermentalität?
Hanning: Viele Dinge waren wirklich gut, die darf man auch genauso benennen - wie eben zum Beispiel die Abwehrleistung. Trotzdem ist wichtig, dass man sich mit den Dingen auch kritisch auseinandersetzt, um beim Qualifikationsturnier für Olympia vollkommen bereit zu sein. Nur darum ging es mir. Wenn ich die einzige Stimme bin, die so was nach außen trägt, dann kann ich damit gut leben. Als größte Handball-Nation der Welt sollte man sich nicht klein machen, sondern immer wieder hohe Ziele stecken. Umso wichtiger war es, dass Andreas Wolff vorher den Europameistertitel ausgerufen hat. Und umso wichtiger ist es, dass die Spieler mit ein bisschen Abstand genauso wenig mit dem Resultat zufrieden sind wie ich.
Olympia-Quali? „Da sind Vollprofis am Werk“
SPORT1: Was sind für Sie die entscheidenden Baustellen mit Blick auf Olympia und die Zeit darüber hinaus? Wo sehen Sie Stärken, auf die man bauen kann?
Hanning: Ich glaube, dass wir die Spiele gegen Kroatien und Österreich ganz anders angehen werden, als wir das jetzt bei der Heim-EM gemacht haben. Gegen Österreich wird es von Anfang an eine andere Grundaufstellung geben. Und beim Spiel gegen die Kroaten hatte die vorzeitige Qualifikation für das Halbfinale leider eine gewisse Entspanntheit ausgelöst. Da waren wir nicht so im Fokus wie die Kroaten, die unbedingt ihre EM retten wollten. Von daher bin ich da auch entspannt. Wenn wir die Abwehrarbeit und Andi Wolff im Tor haben, dann werden wir uns auch qualifizieren. Auch wenn nach außen gerade laut gebellt wird, werden da nach innen schon die richtigen Schlüsse gezogen. Da sind Vollprofis am Werk, die wissen, an welchen Stellschrauben sie drehen müssen.
SPORT1: Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit der Personalie Gislason umgehen, dessen Vertrag im Sommer ausläuft: Jetzt verlängern und ein Signal setzen oder Olympia abwarten? Und warum?
Hanning: Ich halte es für ganz wichtig, dass diejenigen, die in der Verantwortung stehen, diese dann auch tragen. Das war schon zu meiner Zeit so. Jetzt sind andere in der Verantwortung, und die werden die richtigen Entscheidungen treffen. Sie werden wissen, wann welche Signale an die Mannschaft richtig sind.
„Knorr hat sehr viele Dinge auch ganz richtig gemacht“
SPORT1: Juri Knorr stand bei dieser EM stärker als bislang im öffentlichen Fokus. Am Ende hat er harte Selbstkritik geübt. Fanden Sie das richtig?
Hanning: Es wäre gut gewesen, wenn wir eine Alternative zu ihm gehabt hätten. Ich persönlich sehe diese klar in Nils Lichtlein, weil er ein ganz anderer Spielertyp ist. Das hätte Juri geholfen, auch mal durchatmen zu können. Juri Knorr ist kein Gidsel (Dänemark-Star Mathias Gidsel, Anm. d. Red.) und kein Gottfridsson (Schwedens Jim Gottfridsson, Anm. d. Red.). Juri Knorr ist Juri Knorr. Er hat sehr viele Dinge auch ganz richtig gemacht. Deswegen ist es nicht gut, einen Einzelnen für Erfolg und Misserfolg zu heroisieren oder an den Pranger zu stellen. Jeder Mensch geht anders mit Situationen um. Ich fand es sympathisch und glaube einfach nur, dass Deutschland eine Alternative braucht, um ihn noch stärker zu machen.
SPORT1: Sie befassen sich sehr viel mit Talenten und haben mit dem VfL Potsdam ein neues Projekt angestoßen, um ein „Team Deutschland“ zu formen. Die Idee: Den Aufstieg in die erste Liga schaffen, neue Talente an Land ziehen und ausbilden, sodass auch die Nationalmannschaft davon profitieren kann. Wie zeitnah ist das umsetzbar?
Hanning: Erst einmal ist es nur ein Angebot - nicht mehr und nicht weniger. Wichtig ist, dass unsere Talente Spielzeit bekommen. Das ist der große Unterschied, der uns phasenweise einfach noch fehlt. Wenn es einen Verein gibt, der auf einer Position einen Spieler hat, der sich in der ersten Liga weiterentwickeln kann, ist es doch eine gute Idee. Und wenn der Verein den Spieler selbst braucht, ist eben für den nächsten Spieler ein Platz frei. Ich finde die Idee nach wie vor gut, dass wir deutschen Talenten eine Chance geben, in der Ersten Liga zu spielen. Ich nehme mal das Beispiel von Schöttle (Nico Schöttle; Anm. d. Red.), der gerade in Hamm spielt. Für seine Entwicklung wäre es doch viel besser, wenn er jetzt irgendwo in der ersten Liga der erste Mann sein könnte. Aus dieser Kategorie gibt es bestimmt noch drei oder vier Spieler.
Jahrzehnt des Handballs? “Das ist jetzt eine riesige Chance“
SPORT1: Das Paradebeispiel ist da wahrscheinlich Julian Köster vom VfL Gummersbach, der auch extrem früh schon bei einem nicht ganz so großen und erfolgreichem Erstligisten Verantwortung übernommen und sich schnell weiterentwickelt hat ...
Hanning: Genau. Das ist das Angebot, was ich machen kann. Dabei verfolge ich keine egoistischen Interessen, sondern habe nur den Sport im Mittelpunkt. Wir haben gesagt, dass wir bis 2027 das Jahrzehnt des Handballs haben. Den Weltmeisterschaftstitel der U21 haben wir schon geholt – das ist jetzt eine riesige Chance. Darum geht es mir und um nichts anderes.
SPORT1: Top-Favorit Dänemark hat es übrigens auch wieder nicht geschafft, den ersten Titel seit 2012 zu holen. Sind die Franzosen vielleicht auch deshalb Europameister geworden, weil kein einziger Feldspieler den Strapazen der Handball-Bundesliga ausgesetzt ist?
Hanning: Bei allem Respekt, aber die deutschen Rückraumspieler haben zum Beispiel auch nicht die allerhöchste Belastung, weil sie alle nicht in der Champions League spielen. Nils Lichtlein, Renars Uscins und Juri Knorr sind zumindest noch in der European League dabei, aber auf die Frankreich-These würde ich dann antworten: Dann holen wir den Olympiasieg.