Ab und an bricht der Vulkan doch noch aus – aber dann aus guten Gründen. So wie in der 57. Minute im ersten deutschen Hauptrundenspiel bei der Handball-EM gegen Island, als Andreas Wolff – zuvor schon durch „Andi“-Sprechchöre animiert – den Siebenmeter von Viggo Kristjánsson entschärfte.
Die Wandlung eines Vulkans
Das ließ auch Wolff nicht kalt. „Das ist das, was wir uns ausgemalt haben. Eine fantastische Atmosphäre. Die Zuschauer haben absolut dazu beigetragen, dass wir gewinnen konnten. Und gerade bei solchen Drucksituationen wie beim Siebenmeter ist das natürlich äußerst hilfreich“, sagte Wolff auf SPORT1-Nachfrage.
Bereits zuvor hatte er im ZDF erklärt: „Ich wurde freundlichst aufgefordert, den Siebenmeter zu halten. Und der Bitte kann ich natürlich nicht widerstehen. Es freut mich, dass ich dort nochmal ein paar Akzente setzen konnte.“
Hexer Wolff wird gefeiert
Nur zwei Minuten später parierte Wolff einen weiteren Strafwurf, ehe Julian Köster mit seinem viel umjubelten Treffer den 26:24-Sieg vor knapp 20.000 Fans in der Kölner Lanxess Arena endgültig unter Dach und Fach brachte.
Die deutsche Lebensversicherung wurde nach der Nervenschlacht von Trainer und Teamkollegen gefeiert. „Andi ist momentan ganz klar der beste Torhüter der Welt, vielleicht mit Landin (Niklas Landin, Dänemark, Anm. d. Red.) zusammen, aber er ist unglaublich stabil. Er ist ein phänomenaler Torwart“, sagte Alfred Gislason.
Die Stabilität liegt auch an einer Wandlung des einstigen Vulkans Wolff, der einst vor allem bei negativen Erlebnissen ins Brodeln kam.
Wolff war „immer sauer“ auf Gislason
„Ich kannte ihn auch in alten Zeiten, wo er ein Hitzkopf ohne Ende war. Jetzt ist er viel ruhiger und ausgeglichener geworden“, sagte Gislason nach dem Island-Spiel , ehe er auch am Freitag auf einer Pressekonferenz die Entwicklung Wolffs als Torhüter und Mensch würdigte: „Er ist zu einem Weltklasse-Torwart gereift.“
Der Isländer hat Wolffs Prozess hautnah miterlebt. 2016 hatte der heutige DHB-Coach Wolff von der HSG Wetzlar zu Rekordmeister THW Kiel gelotst. Dort war es nicht immer einfach zwischen Torwart und Trainer.
„Es war schwieriger für ihn als für mich. Er war jünger, impulsiv und wollte immer spielen. Aber Landin (Konkurrent Niklas Landin, Anm. d. Red.) kam sehr schlecht von der Bank - und Andi sehr gut“, berichtete Gislason vor dem zweiten EM-Hauptrundenspiel gegen Österreich am Samstag (20.30 Uhr im LIVETICKER).
Wolff sei daher „immer sauer“ gewesen, „weil er nie anfangen durfte“, ergänzte Gislason, bekräftigte aber: „Auch wenn wir uns in Kiel mal gestritten haben, war unser Verhältnis immer gut.“
Wolff 2016 plötzlich im Handball-Himmel
2016 hatte sich Wolff mit Glanzleistungen, die im sensationellen EM-Titel für Deutschland mündeten, in den Handball-Himmel katapultiert. „Danach kannte jeder meinen Namen“, berichtete der Torhüter in einer Doku der ARD.
Er berichtet von „krassen Erfahrungen“, aber erkennt rückblickend auch: „Der Anstieg an Aufmerksamkeit war dann irgendwann echt anstrengend. Ich habe mich da ein bisschen verloren.“
In Kiel erlebte Wolff keine glücklichen Jahre, die Rolle als Nummer 2 hinter Landin nagt an ihm. „Als junger Spieler hat man Angst, das Erreichte zu verlieren“, sagte er laut Weser-Kurier.
Er spricht in der ARD von „blindem Ehrgeiz“, er sei „ein Stück weit egoistisch“ gewesen: „Dieses: Ich muss immer der Beste sein, immer alles sofort zeigen, ich muss, ich muss, ich muss. Man geht so ein bisschen als rotzfrecher Bengel dahin, und meint, man könne sich quasi nur durch Leistung aufstellen.“
„Das hat ihn ziemlich fertig gemacht“
Sein Medienberater und Freund Kevin Gerwin, als Hallensprecher bei der EM im Einsatz, erklärte: „Das hat sehr, sehr viel mit ihm gemacht. Das war sicherlich der psychische Tiefpunkt der Karriere. Das hat ihn alles ziemlich fertig gemacht.“
Der Wechsel vom THW zu Kielce nach Polen 2019 sowie die Arbeit mit einer Sportpsychologin halfen ihm, aus dem Tief zu kommen – und die betonte Ausgeglichenheit zu finden.
Wolff hatte lange ein „Pflichtdenken“, wie er es nennt: „Ich muss ein gutes Turnier spielen, ich muss die ganze Mannschaft auf meinem Rücken, auf meinen Schultern tragen. Das hat dazu geführt, dass man sich selbst verloren hat.“
Wolff war „ein extremer Hitzkopf“
Natürlich wolle er „immer noch gut spielen, aber ich habe gelernt, schlechte Aktionen passieren zu lassen und mich auf den nächsten Ball zu konzentrieren“, sagte er.
Schließlich ist es auch mal in Ordnung, einen Fehler zu machen. „Dann kassiert man halt mal einen dummen Ball. Das wirst du nicht mehr ändern können. Aber das ist auch nicht das Ende der Welt.“
Wolff war „ein extremer Hitzkopf“, weiß Gislason. Aber „er ist anders geworden, reifer geworden“. Das zeigt sich auch im Umgang mit den Teamkollegen, die sich am Rande der aktuellen EM immer wieder lobend über Wolff äußern – auch, was dessen Unterstützung betrifft.
„Ich versuche den anderen, größtenteils jüngeren Spielern, mit meiner Erfahrung zu helfen, Sicherheit zu vermitteln, die ich habe lernen müssen“, sagte der deutsche Keeper.
„Unfassbar“: Wolff führt Deutschland zum Erfolg
„Ich hoffe, dass meine Rolle im Team jetzt eine etwas andere ist. Dass ich meinen Mitspielern das Gefühl gebe, dass ich sie respektiere, dass ich sie wertschätze und dass ich unbedingt möchte, dass jeder von uns den maximalen Erfolg einfährt.“
Und der einst so Getriebene treibt an: Unter seiner Führung hat die deutsche Mannschaft bisher drei Siegen in vier Turnierspielen erreicht.
Auch, weil der Keeper, wie es Martin Hanne bei SPORT1 mit Blick auf die entscheidenden Paraden gegen Island beschrieb „erneut bewiesen hat, dass er mit seiner Ruhe, die er in solchen Momenten hat, einer der besten Torhüter der Welt ist. Das ist unfassbar.“