Die Uhr tickt für die DDR, vier Sekunden sind es noch im olympischen Handball-Finale an diesem 30. Juli 1980.
Olympia-Wunder für die Ewigkeit
Wieland Schmidt steht im Sokolniki-Palast von Moskau in seinem knallgelben Torwart-Sweater zwischen den Pfosten, als aus dem Nichts plötzlich Alexander Karsakjewitsch vor ihm auftaucht. Die Menge kreischt, Karsakjewitsch wirft – doch irgendwie lenkt der Keeper den Ball mit seinem linken Unterarm noch an die Latte. Kein Tor also. Abpfiff, Schluss, Aus,vorbei - und die DDR ist tatsächlich Olympiasieger.
"Das hat sich keiner erträumt, da kriege ich immer noch Gänsehaut", sagt Schmidt in einem von vielen Rückblicken auf dieses denkwürdige Endspiel gegen die "unbändige Truppe" der UdSSR.
Das 23:22 (20:20, 10:10) gegen den großen Gold-Favoriten und Gastgeber hätte niemand für möglich gehalten.
Finale gegen die UdSSR für die Geschichtsbücher
Während die deutschen Weltmeister aus dem Westen dem Olympia-Boykott zum Opfer gefallen waren, spielte das DDR-Team unter der klugen Regie ihres Trainers Paul Tiedemann das Turnier seines Lebens. Für das Finale hatte sich die DDR erst durch ein knappes 22:21 im entscheidenden Gruppenspiel gegen Polen qualifiziert.
Und auch das Endspiel, eines der besten und spannendsten Handballspiele überhaupt, verlief denkbar eng. Die DDR hatte die Sowjets beim Stand von 20:20 zunächst in die Verlängerung gezwungen, in der Hans-Georg Beyer den letzten der drei DDR-Treffer zum 23:21 erzielte.
Was dann kam, war Nerven-Thrill pur: Der russische Favorit benötigte zwei schnelle Tore. Das erste fiel recht einfach, ehe sich Karsakjewitsch gegen Schmidt die Riesenchance zum Ausgleich bot – der Rest ist bekannt.
Bis heute hat sich die Szene kurz vor Schluss ins deutsche Handball-Gedächtnis eingebrannt. "Darauf werde ich immer wieder angesprochen", sagt Schmidt.
Torhüter Schmidt, das "Phantom"
Der damals 26-Jährige, von gegnerischen Torjägern wegen seiner Reflexe nur das "Phantom" genannt, erinnert sich haargenau – auch an seine Reaktion unmittelbar im Anschluss, als er den Ball nach Spielende sichtbar wütend mit voller Wucht abfeuerte.
"Ich wollte eigentlich diesen russischen Kameramann treffen, der mich nach jedem Tor der Sowjets so unverschämt angegrinst hat", erzählt "Willi".
Schließlich hatte es sich der frühere Weltklasse-Keeper dann aber doch anders überlegt - der Ball zischte wenige Millimeter am "Ziel" vorbei.
Der Triumph gegen die UdSSR, laut Rückraumspieler Lothar Doering "eine Mannschaft wie von einem anderen Stern", steht für die DDR-Handballer wohl bis ans Ende ihrer Tage über allem. "Wir haben das Unmögliche möglich gemacht", sagt Schmidt.
Einziger Olympiasieg einer deutschen Mannschaft
Auch für Rekordnationalspieler Frank-Michael Wahl ist der "Triumph in der Höhle des Löwen" immer noch der schönste seiner Karriere. Trainer Tiedemann sprach vor seinem Tod ebenso von seiner "schönsten Erinnerung, für mich das größte Spiel aller Zeiten".
Trotz der vollmundigen Ankündigungen der Neuzeit bleibt es bis heute der einzige Olympiasieg einer deutschen Nationalmannschaft.
Bei der WM 1982 landete die DDR vor Gastgeber BRD und gewann das direkte Duell in der Hauptrunde mit 19:16. Während die DDR 1986 sogar WM-Dritter wurde, stürzte die BRD in eine schwere Krise, stieg sogar in die B-Gruppe ab, nur die Wiedervereinigung rettete den deutschen Handball vor der Zweitklassigkeit.
Kein Olympiasieger in der Hall of Fame
Dass trotzdem keiner der DDR-Stars von 1980 in die Hall of Fame des deutschen Sports - im Gegensatz zu BRD-Weltmeistern von 1978 - aufgenommen wurde, ist kein Ruhmesblatt für die Verantwortlichen.
Immerhin ist Wahl nach wie vor Rekordnationalspieler (302 von 344 für die DDR) und Torschütze (1338 von 1412). Er und Schmidt spielten nach 1989 auch noch sehr erfolgreich in der Bundesliga.
Auch bei der Heim-WM 2007 waren nur die Weltmeister von 1978 eingeladen - nicht die Olympiasieger. Zumindest findet nach 30 Jahren beim DHB ein Umdenken statt. Bei der Olympia-Quali für 2021 sollen sie nun dabei sein.
"Die ostdeutschen Olympiasieger von 1980 zählen ebenso wie die westdeutschen Weltmeister von 1978 zur DNA der deutschen Sport- und Handballgeschichte", sagte DHB-Präsident Andreas Michelmann
Das Endspiel im Sokolniki-Palast von Moskau bleibt so oder so unvergessen - und Wieland Schmidts Reflex für die Ewigkeit.