Eine knappe Stunde war an jenem 8. Juli 1982 vor 63.000 Zuschauern im Estadio Ramón Sanchéz Pizjuán in Sevilla vergangen, als die Fußballwelt ihren Atem anhielt. Beim Stand von 1:1 stürmte die deutsche Nummer eins Harald „Toni“ Schumacher nach einem langen Ball der Franzosen aus seinem Tor und krachte mit dem Becken an den Kopf des angreifenden Stürmers Patrick Battiston.
Das Feindbild einer Nation
Einer seiner Halswirbel war angebrochen, sein Gehirn war schwer erschüttert worden und in seinem Mund klaffte eine große Lücke. Battiston hatte zwei Zähne verloren. Von all dem bekam der Franzose allerdings nichts mit, er hatte das Bewusstsein verloren: „Ich habe gedacht, er ist tot. Ich habe zwei Minuten lang keinen Puls gespürt“, erklärte Mannschaftsarzt Maurice Vrillac nach der Partie.
Erst später im Krankenhaus wachte Battiston wieder auf und fragte einen Mannschaftskollegen, wie es stehe: „3:1 für uns“, antwortete Philippe Mahut. Battiston schlief wieder ein und musste am nächsten Tag feststellen, dass Frankreich nach einem Zwei-Tore-Comeback der Deutschen im Elfmeterschießen ausgeschieden war.
Anders als erwartet stand nach dem WM-Finaleinzug der Deutschen aber nicht das Spiel im Fokus der Presse.
Schumacher unbeliebter als Hitler
Mit seinem krassen Fehlverhalten nach dem Foulspiel an Battiston zog Übeltäter Toni Schumacher sämtliche Kritik auf sich. Der deutsche Schlussmann, der für sein brutales Einsteigen nicht einmal Gelb gesehen hatte, zeigte sich nach seiner Tat unbeirrt, jonglierte den Ball, ohne sich nach Battistons Gemüt zu erkunden, kaugummikauend in seinem Strafraum herum und wartete auf die Fortsetzung des Spiels.
Schumacher später: „Unter Profis gibt es kein Mitgefühl, aber ich zahle dem Battiston seine Jacketkronen“.
In der französischen Presse tauchten in der Kommentierung zum Spiel Wörter wie „Panzer“, „Gestapo“, „SS“ oder „Nazis“ auf. „Toni Schumacher, Beruf Unmensch“, schrieb die berühmte Sportzeitschrift L´Équipe. Schumacher musste sogar mit ansehen, wie er unmittelbar in Frankreich nach dem Turnier auf einer Liste der unbeliebtesten Deutschen auf Platz eins gewählt wurde - vor Adolf Hitler.
Das deutsche Image am Tiefpunkt
Schumacher selbst entschuldigte sich erst eine Woche später beim Franzosen, der auf die Frage, ob er sich mit dem Deutschen noch einmal treffen würde, eine klare Meinung hat: „Eine Menge Leute haben mich das sehr oft gefragt. Und meine Antwort hat sich in all den Jahren nicht verändert. Nein“.
Schumachers Handeln bekräftigte den international ohnehin negativen Eindruck von der deutschen Nationalmannschaft, die sich bereits im vorherigen Turnierverlauf nicht mit Ruhm bekleckert hatte.
Nach einem peinlichen 1:2 in der Vorrunde gegen Algerien und der geschichtsträchtigen „Schande von Gijón“, bei der sich Österreich und Deutschland auf einen Nichtangriffspakt und ein 1:0 für die Bundesrepublik, welches beiden Nationen das Weiterkommen garantierte, einigten, stand der deutsche Fußball schwer in der Kritik. Frankreich ging auch deswegen als leichter Favorit in das Halbfinale in Sevilla.
Traumtor von Klaus Fischer rettet Deutschland
Es entwickelte sich schnell ein rasantes, spannendes und hitziges Duell. Deutschland konnte nach 17 Minuten durch Pierre Littbarski mit 1:0 in Führung gehen, ehe Michel Platini nach einem berechtigten Strafstoß das 1:1 erzielte.
Viele Nickeligkeiten und zahlreiche Fouls prägten das Spiel, ehe Toni Schumacher in der besagten 57. Minute seinen Gegenspieler Battiston niederstreckte. In der Folge hatte erst der Franzose Manuel Amoros mit einem Schuss an die Querlatte die Entscheidung auf dem Fuß, ehe Klaus Fischer in der Schlussminute beinahe die Deutschen ins Endspiel gebracht hätte.
Angetrieben von den Emotionen erspielten sich die Franzosen durch zwei schnelle Treffer in der Verlängerung von Marius Trésor und Alain Giresse eine komfortable 3:1-Führung, die die Deutschen in der zweiten Hälfte der Extraspielzeit egalisieren sollten.
Angeführt von Karl-Heinz Rummenigge, der aufgrund von Oberschenkelproblemen erst nach sieben Minuten in der Verlängerung eingreifen konnte und fünf Minuten später zum 2:3 traf, erzielte Klaus Fischer in der 108. Minute per Fallrückzieher das 3:3. Dieses Tor sollte später zum Tor des Jahres gewählt werden.
Die Geburt der deutschen Elfmeter-Dominanz
Nach 120 Minuten fand die Begegnung ihren Höhepunkt im Elfmeterschießen, welches das erste seiner Art in der WM-Geschichte war. Deutschland sollte die besseren Nerven bewahren. Legendär der letzte Schütze Horst Hrubesch, der mit seinem ersten Ballkontakt lässig zum 5:4-Endstand verwandelte:
„Entscheidend ist einzig und allein, dass der Ball im Netz liegt“, sagte Hrubesch im Gespräch mit SPORT1. „Das Spiel werde ich für immer im Kopf behalten, es war ein absolutes Highlight.“
Auch Europas Fußballer des Jahres 1981, Karl-Heinz Rummenigge, spricht noch heute vom „besten Spiel seiner Karriere“. Toni Schumacher und Klaus Fischer taufen die Begegnung zum „Jahrhundertmatch“ und schwärmen vom „besten Spiel, was sie jemals gesehen und absolviert haben“.
Battiston blickt anders auf die Partie zurück. Selbst Jahrzehnte später belastet ihn der heftige Zusammenprall immer noch: „Die Vorderzähne musste ich sechs Mal wegen meines Zahnfleisches wechseln. Der Rücken, der Nacken, das Sehen - ich habe Spätfolgen im Alltag, die mich an Sevilla erinnern“, sagte er vor einiger Zeit. Schumacher war das alles bis zuletzt neu. Er reagierte betroffen: „Das höre ich zum ersten Mal. Das ist schlimm. Das tut mir sehr leid.“