Das WM-Finale wird aus taktischer Sicht eine vorhersehbare Dynamik entwickeln: Argentinien ist das Team, das mit Anpassungen und Umstellen proaktiv agieren möchte. Frankreich hingegen setzt auf ein funktionierendes System, an dem nicht gerüttelt wird.
Frankreichs unterschätzter X-Faktor
Diese Dynamik repräsentiert das Duell zwischen den beiden Cheftrainern, Lionel Scaloni und Didier Deschamps.
Scaloni hat noch nicht die Zeit gehabt, um sich eine nennenswerte Reputation im Weltfußball zu erarbeiten, aber der 44 Jahre alte Ex-Spieler überraschte bei diesem Turnier mit vielfach veränderten Grundformationen und taktischen Abläufen. (NEWS: Alles Wichtige zur WM)
Die Argentinier wechselten sogar zwischen Vierer- und Dreierkette, was für viele andere Nationaltrainer während einer WM undenkbar wäre, weil der Fokus bei den meisten darauf liegt, Fehler zu vermeiden.
Argentinien verfügt über hochintelligente Akteure
Taktische Umstellungen bringen stets das Risiko mit sich, dass die Abläufe und positionellen Staffellungen nicht funktionieren und entsprechend Gegentreffer kassiert werden.
Allerdings verfügt Argentinien über einige hochintelligente Akteure - insbesondere im Mittelfeld. Die Gruppe rund um Rodrigo de Paul kann entsprechend die Vorgaben von Scaloni umsetzen.
Gegen Frankreich könnte es eventuell eine Umstellung auf ein 4-3-3 geben, um die Franzosen beim Spielaufbau zuzustellen. Im Halbfinale gegen Kroatien war dies nicht notwendig, weil die kroatische Spieleröffnung wenig Gefahr ausstrahlte.
Frankreich ist auch nicht unbedingt für kreative Aufbaupässe oder dergleichen bekannt, aber das Potenzial in den offensiven Zonen ist derart groß, dass Argentinien eigentlich verhindern muss, dass der Ball überhaupt erst dorthin gelangt.
Griezmann bei Frankreich als Spielgestalter
Ein teils unterschätzter Schlüsselspieler im französischen System ist Antoine Griezmann, der auf dem Papier als Zehner fungiert. Gerade in Abwesenheit von dominanten Sechsern wie N‘Golo Kanté und Paul Pogba lastet noch mehr Verantwortung auf Griezmann, der sich häufig über die Halbräume die Bälle abholt und dann noch vorn bringt.
Nur durch eine passable Vorbereitung der Spielzüge kann im letzten Drittel Kylian Mbappé wirklich glänzen. Denn der 23 Jahre alte Superstar ist kein Angreifer, der die langen Wege geht und den Ball frühzeitig fordert. (DATEN: Gruppen und Tabellen der WM)
Mbappé in Szene zu setzen, wird für Frankreich - wenig überraschend - auch der Schlüssel in diesem Endspiel sein. Zumal der Top-Torjäger gegen Argentiniens rechte Abwehrseite deutliche individuelle Vorteile hat.
Den Südamerikanern ist es in den Runden zuvor gelungen, den Raum zwischen Abwehr und Mittelfeld sehr eng zu halten. Das muss erst recht gegen die Franzosen gelingen, die jedoch über den angesprochenen Griezmann und dessen Bewegungen diesen Raum auseinanderziehen könnten.
Argentinien muss für Messi mitrennen
Was Mbappé auf französischer Seite ist, ist Messi auf argentinischer. Der Altmeister steht bei diesem Turnier erneut im Rampenlicht und das auch dank Scaloni. Denn dem Cheftrainer ist es bislang immer gelungen, die überschaubare Laufleistung Messis zu kompensieren.
Natürlich verfügt Argentinien über kein wirklich zugriffsstarkes Angriffspressing, weil Messi nur punktuell anläuft und sich ansonsten seine Kräfte einteilt. Aber in der Rückwärtsbewegung arbeitet beispielsweise Julián Álvarez umso härter, um Lücken zu stopfen. (DATEN: WM-Spielplan 2022)
„Für mich ist das der wichtigste Aspekt bei diesem argentinischen Team und der Grund, weshalb sie im Finale stehen“, schreibt Mauricio Pochettino auf dem Portal The Athletic.
„Die Spieler verstehen voll und ganz ihre Aufgabe: Wenn man Messi im Team hat, muss man für ihn laufen. Und wenn man den Ball hat, muss man diesen ihm so schnell wie möglich geben, damit er etwas kreieren kann.“
So simpel diese Erfolgsformel auch klingt, sie gilt auch fürs Endspiel.
Diese Frankreich-Schwäche kann Argentinien ausnutzen
Argentinien konnte gegen Kroatien häufig die Außenbahn schnell überspielen und so Messi einsetzen.
Gegen Frankreich könnte das wieder ein Weg sein, denn bei der Équipe arbeiten Mbappé oder auch Ousmane Dembélé nicht immer konsequent zurück, wodurch die Außenverteidiger auf sich gestellt sind.
Kann Scalonis Team diesen Schwachpunkt ausnutzen, wird Messi in gefährlichen Zonen an den Ball gelangen.
In jedem Fall muss Scaloni kreative Lösungen finden, während Deschamps wie auch schon in der Vergangenheit versucht, sein System so einfach wie möglich zu halten.