Nico Schlotterbeck startet am Mittwoch in seine erste WM, womit für den 22-Jährigen ein echter Kindheitstraum in Erfüllung geht. Als Kind noch beim Public Viewing die WM-Helden angefeuert, kann er nun selbst für WM-Euphorie in Deutschland sorgen.
DFB-Star Schlotterbeck exklusiv
Im exklusiven SPORT1-Interview spricht Schlotterbeck über seine Leistung in der DFB-Elf, seine Vorbilder bei Weltmeisterschaften und über seine Rolle innerhalb der Mannschaft.
Außerdem verrät er, wie er die Chancen gegen Auftaktgegner Japan sieht - und Deutschlands Titelchancen.
SPORT1: Herr Schlotterbeck, in Deutschland ist es kalt, hier in Katar dagegen richtig warm. Sie kommen zudem aus einer vollgepackten Hinrunde. Sind Sie überhaupt schon in WM-Stimmung?
Nico Schlotterbeck: So langsam realisiert man, dass WM ist. Die Eröffnungsfeier und das Auftaktspiel haben wir gemeinsam in der Mannschaft verfolgt. Schon auf dem Weg hierher vom Flughafen zu unserem Team Base Camp haben wir die ganzen Fahnen gesehen. Es kribbelt langsam. Das richtige WM-Feeling wird aber erst mit dem ersten Spiel voll da sein.
SPORT1: Welche WM war die erste, die Sie als Kind so richtig wahrgenommen haben?
Schlotterbeck: Ganz klar 2006, die Heim-WM. Das war etwas Besonderes. Ich war in meinem Heimatort beim Public Viewing und habe jedes Spiel mit der Familie gesehen. Das waren die ersten Berührungspunkte für mich mit einer WM. Es war ein Turnier, das allen im Land Spaß gemacht hat. Ich hatte die schwarz-rot-gelben Streifen auf der Wange, ein Trikot an und habe voll mitgefiebert.
Schlotterbeck: „Sehr froh“ über Nominierung
SPORT1: Heute tragen Sie das Trikot als Nationalspieler bei einer WM. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Schlotterbeck: Eine Weltmeisterschaft ist das größte Event, mehr kannst du als Fußballer nicht erreichen. Es wird ein Kindheitstraum wahr. Ich habe so viel dafür geopfert, um hier zu sein. Natürlich hatte ich auch Glück. Das Gefühl, dass alle Augen auf dich gerichtet sind und du ein ganzes Land hinter dich bringen kannst, das ist unbeschreiblich.
SPORT1: Über welche Glückwunsch-SMS haben Sie sich am meisten gefreut?
Schlotterbeck: Ich habe nach meiner Nominierung viele Anrufe und Nachrichten von der Familie und von Freunden erhalten. Die meisten meinten: ‚War ja eh klar, dass du dabei bist.‘ Für mich war überhaupt nichts klar. Als der Anruf von Hansi Flick kam, war ich sehr froh.
SPORT1: Sie haben in ihren sechs Länderspiel-Einsätzen drei Elfmeter verschuldet. Hatten Sie auch deshalb Sorge?
Schlotterbeck: Ja, klar. Auch ich habe überlegt und mich immer wieder reflektiert. Meine Leistungen im Verein finde ich sehr gut, bei der Nationalmannschaft war das aber bislang ausbaufähig. Die Länderspiele waren noch nicht auf dem Niveau, das ich selbst von mir erwarte und auch der Bundestrainer.
Was der Bundestrainer jetzt von Schlotterbeck erwartet
SPORT1: Haben Sie wegen der Elfmeter einen Rüffel von Flick erhalten?
Schlotterbeck: Wir haben eine Players Lounge, in der wir viele Gespräche mit dem Trainer führen und die Spiele analysieren. Hansi hat viel mit mir gesprochen in diesen Tagen und Stellschrauben angesprochen, an denen wir drehen wollen. Dazu gehören sicher auch die Elfmeter.
SPORT1: Sie schwanken mitunter zwischen Genie und Wahnsinn – finden Sie diese Aussage passend?
Schlotterbeck: (überlegt) Das Problem bei uns Innenverteidigern ist: Wenn du ein Gegentor kassierst, hängst du immer irgendwie mit drin. Und wenn das der Fall ist, dann war es auch nicht gut von mir. Es ist ein schmaler Grat, auf dem du als Verteidiger agieren musst. Man hat immer mal Spiele drin, die nicht so gut sind. Niemand ist fehlerfrei in seinem Job. Ich versuche die Fehler aber auf ein Minimum zu reduzieren. Nach schlechten Spielen reflektiere ich mich schon sehr, davon können Sie ausgehen.
SPORT1: In einem Interview mit uns haben Sie vor rund einem Jahr mal Niklas Süle als ihr Vorbild genannt. Welche Spieler haben Sie früher noch begeistert?
Schlotterbeck: Wir haben vorhin von der WM 2006 gesprochen, da war Fabio Cannavaro sehr gut. Jérôme Boateng und Mats Hummels waren in all den Jahren, in denen ich die Nationalmannschaft als Fan verfolgt habe, auch sehr stark. Von Virgil van Dijk schaue ich mir zudem etwas ab. Am Ende will ich aber mein Spiel durchziehen. Ich hoffe, dass ich irgendwann mal ein Vorbild für andere junge Fußballer sein kann.
Bayern-Block kann „von Vorteil“ sein
SPORT1: Sie haben Mats Hummels angesprochen. Er ist nicht bei dieser WM dabei. Finden Sie nicht auch, dass er mit Blick auf die reinen Leistungen, die er zuletzt beim BVB gezeigt hat, hätte nominiert werden müssen?
Schlotterbeck: Ich kenne die Hintergründe nicht. Deshalb ist es sehr schwer für mich, das einzuordnen. Das ist auch nicht mein Job, sondern der des Bundestrainers.
SPORT1: Am Mittwoch geht die WM für Sie mit dem Spiel gegen Japan los. Stellen Sie sich auf den Abwehr-Innenblock Antonio Rüdiger/Niklas Süle ein? (NEWS: Alles Wichtige zur WM)
Schlotterbeck: Ich will einen Mehrwert für die Mannschaft bringen - ob von der Bank oder von Beginn an. Ich will der Mannschaft so viel geben, dass wir uns im Training immer zu Höchstleistung antreiben. In meiner Position als Neuling ist es nicht angebracht, Startelf-Ansprüche zu stellen. Am Ende muss der Trainer das entscheiden.
SPORT1: Mit Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Leroy Sané, Jamal Musiala, Serge Gnabry und Thomas Müller könnte gegen Japan ein starker Bayern-Block auflaufen. Wie wichtig wäre dieser Block für die Mannschaft?
Schlotterbeck: Die Bayern sind gut drauf - aus Vereinssicht leider. Aus DFB-Sicht freut es mich aber natürlich sehr, dass die Jungs zuletzt so gut performt haben. Das hilft uns. Diese Blöcke gab es immer schon in der Nationalmannschaft und es ist sicherlich von Vorteil, wenn viele Spieler eingespielt sind. Der Trainer wird die bestmögliche Mannschaft auf den Platz schicken, damit wir erfolgreich sind.
„Wir gehen von einem Sieg aus“ gegen Japan
SPORT1: Die Bayern sind obenauf, Sie und die weiteren BVB-Spieler Süle, Julian Brandt, Karim Adeyemi und Youssoufa Moukoko kommen dagegen mit Platz sechs und zwei Niederlagen gegen Wolfsburg und Gladbach zur WM. Wie enttäuschend ist das für Sie?
Schlotterbeck: Das letzte Spiel gegen Gladbach war an einem Freitag, bis zur Anreise zum DFB waren es also noch zwei sehr lange Tage. Wir haben hier beim DFB nochmal untereinander gesprochen, um das abzuhaken und den Schalter umzulegen. Wir wollen noch vier Wochen hier sein und gut performen.
SPORT1: Was erwarten Sie von den Japanern?
Schlotterbeck: Mit Endo, Doan, Kamada und Co. haben sie echt gute Spieler, die wir alle aus der Bundesliga kennen. Sie kennen uns und wir kennen sie. Wir wissen also, was uns erwartet. Sie sind sehr laufstark und gut mit dem Ball. Wir wollen aber vor allem unser Spiel durchziehen.
SPORT1: Bei einer Niederlage wäre der Druck enorm groß. Im zweiten Spiel geht es nämlich gegen Spanien.
Schlotterbeck: Es hilft sicher, wenn wir das erste Spiel gewinnen. Dann würde etwas Druck abfallen und wir könnten in einen Lauf kommen. An eine Niederlage denken wir nicht. Wir gehen von einem Sieg aus. (DATEN: WM-Spielplan 2022)
Deutschland im Favoritenkreis
SPORT1: Wer ist für Sie der Titelfavorit?
Schlotterbeck: Viele Mannschaften sind auf einem guten Niveau. Ich hoffe, dass wir so gut starten, dass wir schnell zum Favoritenkreis zählen und um den Titel mitspielen können. (DATEN: Gruppen und Tabellen der WM)
SPORT1: Es gab im Vorfeld - auch aus Kostengründen - lange Diskussionen, ob die Familien und Frauen der Spieler mit nach Katar kommen können. Mittlerweile ist gemeinsam mit dem DFB eine Lösung gefunden worden. Die Familien sind in einem Hotel, etwa 30 Kilometer von dem der Mannschaft entfernt. Ihre Eltern und Ihre Freundin begleiten Sie bei fast jedem Spiel. Können Sie auch hier in Katar auf die familiäre Unterstützung zählen?
Schlotterbeck: Ja, meine Familie ist dabei.
SPORT1: Bei allen drei Spielen?
Schlotterbeck: Ich hoffe nicht nur bei drei, sondern bei noch mehr Spielen (lacht). Meine Eltern sind da, meine Freundin, es kommen noch ein paar Freunde und mein Bruder, der ja mit dem SC Freiburg gerade spielfrei hat.
„Infantinos Aussagen waren irritierend!“
SPORT1: Wie oft dürfen Sie die Familien sehen?
Schlotterbeck: In der Regel gibt es Besuchszeiten für die Familien. Wir erfahren das sicher nach dem ersten Spiel. Es ist wichtig, dass wir unsere Liebsten bei uns haben.
SPORT1: Sie sind mit der Mannschaft in einem Wellness-Resort im Norden, rund 110 Kilometer von Doha entfernt. Die meisten Spieler schwärmen schon. Wie gefällt es Ihnen dort?
Schlotterbeck: Es ist super, dass wir einen Bereich für uns haben. Wir haben das Meer direkt vor der Tür und eine Leinwand, auf der wir die WM-Spiele zusammen schauen können. Das ist cool. Auch das Essen ist top. Wir haben hier alles, damit wir uns wohlfühlen und uns unter perfekten Trainingsbedingungen vorbereiten können. Nach dem Abendessen sitzen wir ein paar Stunden zusammen und chillen. Auch das ist cool.
SPORT1: Kriegen Sie im Teamhotel mit, wenn FIFA-Präsident Gianni Infantino eine Pressekonferenz gibt, die fast überall Kopfschütteln auslöst?
Schlotterbeck: Ich habe ein bisschen darüber gelesen, das reicht dann auch. Denn die Aussagen waren irritierend. Ich habe ja schon mal gesagt, dass ich mir ein anderes Land für eine WM gewünscht hätte und ich viele Dinge nicht verstehen kann. Aber dafür können wir Spieler nichts. Ich habe trotzdem Bock darauf, mich mit den besten Fußballern zu messen.
Moukoko zu Bayern?
SPORT1: Sie sind turniererfahren. Im vergangenen Jahr wurden Sie mit der U21-Nationalmannschaft Europameister. Aus dieser Zeit kennen Sie noch David Raum, Karim Adeyemi und Armel Bella-Kotchap. Sind das ihre besten Freunde hier beim DFB?
Schlotterbeck: Ich habe meine Dortmunder Jungs hier, neben denen auch noch Günni (Christian Günter vom SC Freiburg; Anm. d. R.). Es sind noch viele weitere viele coole Jungs dabei, zum Beispiel Kai Havertz.
SPORT1: Ihr BVB-Kollege Youssoufa Moukoko wurde am Sonntag 18. Seine Vertragsverlängerung steht noch aus. Auf der Pressekonferenz hat Manuel Neuer ihm zugeflüstert: „Komm zu den Bayern!“ Haben Sie als Dortmunder schon interveniert?
Schlotterbeck: Manu hat das natürlich als Gag gemeint. Er weiß sicher auch, dass Youssoufa nach Dortmund gehört. Mouki hat eine tolle Hinrunde gespielt und viele Scorerpunkte gesammelt. Er ist sehr fleißig und hat sich diese Nominierung verdient. Dazu ist er auch noch während der WM 18 geworden, das ist schon cool. Aber er ist nicht einfach so hier. Ich bin sicher, dass er uns einen Mehrwert bringen kann.
SPORT1: Neben Moukoko ist mit Niclas Füllkrug ein zweiter Mittelstürmer dabei. Wie sehr verändert sich dadurch das Spiel der Mannschaft?
Schlotterbeck: Wir haben am dritten Spieltag in der Bundesliga gegen ihn gespielt, da war er schon echt gut. Jetzt war er noch besser. Im Training ist er sehr agil, sehr aktiv und er hat eine gewisse Wucht. Es freut mich auch für ihn, dass er dabei ist.
Reus „hätte uns als Mannschaft viel gebracht“
SPORT1: Nicht dabei ist ihr BVB-Kollege Marco Reus. Zum wiederholten Male verpasst er ein großes Turnier. Leiden Sie mit ihm?
Schlotterbeck: Ich kenne Marco jetzt seit anderthalb Jahren. Er ist ein überragender Mensch und ein Weltklasse-Fußballer. Er macht nur Topspiele. Bei ihm sieht alles so geschmeidig aus. Es tut mir persönlich brutal weh, dass er nicht dabei ist. Er hätte uns als Mannschaft so viel gebracht. Wichtig ist, dass er gesund wird und dann eine Top-Rückrunde mit dem BVB spielt.
SPORT1: Hat Hansi Flick den Druck vor dem Auftaktspiel schon erhöht?
Schlotterbeck: Fordernd war er ja immer schon. Er hat trotzdem diese gewisse Lockerheit. Er redet viel mit uns, gibt uns Kommandos und Hinweise. Es macht echt Spaß mit ihm. Er ist ein Top-Trainer.
SPORT1: Am 1. Dezember feiern Sie hier in Katar Ihren 23. Geburtstag. Was wünschen Sie sich als Geschenk von den Kollegen?
Schlotterbeck: Ich wünsche mir, dass wir gut durch die Gruppe gekommen sind und dass wir eine sehr gute Vorrunde gespielt haben. Ich will am 1. Dezember glücklich hier sein und mit den Jungs auf die ersten Erfolge blicken.