Einen großen Einschnitt hat es in diesem WM-Jahr schon gegeben für Afrikas Fußball: Der große Roger Milla spielt nicht mehr.
Historischer Schritt nach vorn?
70 Jahre ist er im Mai geworden - und nach eigenen Angaben hat er an diesem Tag eine letzte, wirklich allerletzte Partie mit Freunden absolviert. Ein letztes Tor geschossen (“Die Flanke flog herein, und ich hielt den Fuß hin. Innenrist. Tor“). Und auch ein letztes Mal vor Freude getanzt, wie seinerzeit mit der Eckfahne (“Natürlich“).
Milla, der legendäre Stürmer-Altstar des bis ins Viertelfinale vorgestoßenen Kameruner WM-Teams von 1990, schwelgt noch immer gern in dem damals erworbenen Heldenstatus als Fußball-Pionier des Kontinents. (NEWS: Alles Wichtige zur WM)
„1990 steht für die Entdeckung und den Fortschritt des afrikanischen Fußballs“, befand Milla in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Interview mit der Schweizer NZZ. Die bittere Note dieser Feststellung: Auch mehr als drei Jahrzehnte danach wartet der afrikanische Fußball vergeblich darauf, einen Schritt weiter zu kommen.
Hat das Warten auf einen neuen afrikanischen Helden bei der WM in Katar nun ein Ende?
WM 2022: Marokko, Ghana und Senegal mit guten Chancen
Nachdem ein größerer Teil der Gruppenphase absolviert ist, ist in jedem Fall festzuhalten: Die Hoffnung, dass im Jahr 92 nach der ersten WM 1930 erstmals ein afrikanisches Team weiter als bis ins Viertelfinale kommt, ist keinesfalls unrealistisch - vor allem Marokko mit dem früheren BVB-Star Achraf Hakimi und Hakim Ziyech vom FC Chelsea hat mit dem Sieg gegen Belgien schon aufgetrumpft.
Der Senegal hat trotz des Ausfalls von FC-Bayern-Angreifer Sadio Mané das Achtelfinale sogar schon erreicht. Nach einem 2:1-Sieg gegen Ecuador stehen die Westafrikaner in der K.o.-Phase. (DATEN: WM-Spielplan 2022)
Bei Ghana ist Doppeltorschütze Mohammed Kudus (Ajax Amsterdam) für SPORT1-Kolumnist Kevin-Prince Boateng sogar „bisher der Spieler des Turniers. Er ist nicht von dieser Welt. Unfassbar, was er mit dem Ball kann.“
Kameruns Sensations-Coup 1990 bis heute nicht getoppt
Sicher ist: Die afrikanischen Teams können heute auf ganz andere Voraussetzungen bauen als zu Zeiten des Sensations-Coups von Milla und Co. 1990: Milla war seinerzeit ein Spätberufener, der erst mit 25 den Sprung zu einem europäischen Verein gemacht und 1990 eigentlich schon die Fußballer-Rente auf dem Inselparadies La Reunion genossen hatte - ehe Kameruns Staatspräsident Paul Biya (bis heute im Amt) verfügte: Milla muss zur WM nach Italien!
Der damals schon 38 Jahre alte Milla schoss dort vier Tore, mit einem Achtelfinal-Doppelpack gegen Kolumbien mit dem als Typ ähnlich denkwürdigen Carlos Valderrama schrieb er Geschichte. Erst im Viertelfinale war nach einem 2:3 nach Verlängerung Schluss gegen England (zwei Tore: Gary Lineker). Ein Märchen, das andere afrikanische Teams bis heute nicht übertrumpft haben.
Bei der WM 2002 gelang dem Senegal nochmal ein Viertelfinal-Einzug, 2010 dann Ghana mit Kevin-Prince Boateng und Hans Sarpei. Alle anderen afrikanischen Team scheiterten immer früher, auch die oft hoch gehandelte Elfenbeinküste, die zwar Didier Drogba hatte - aber ständig auch Los- und Spielpech. (DATEN: Gruppen und Tabellen der WM)
Afrikas Fußball: Otto Addo sieht gute Zeichen - und anhaltendes Systemproblem
Dass die afrikanischen Teams es schwer haben, hat tiefer liegende Ursachen, die auch Milla gut kennt: „Die Differenz zwischen den heimischen Ligen und Europa, wo viele Afrikaner spielen, ist groß. Physisch sind wir besser, technisch sind wir gleich gut, aber in Bezug auf die Taktik und die Organisation haben wir Mängel. Wir haben noch viel zu tun.“
Entwicklungen nach vorn sind jedoch auch nicht zu übersehen: Von hoher Symbolkraft ist vor allem, dass bei dieser WM erstmals alle afrikanischen Teams einen Trainer haben, der aus dem eigenen Land kommt oder dort Wurzeln hat. Aus Europa importierte „Entwicklungshelfer“ - wie einst auch Otto Pfister (Togo 2006) und Volker Finke (Kamerun 2014) - sind weniger in Mode.
Der einst für Ghana aktive, aber in Deutschland geborene und sozialisierte Addo steht zwischen den beiden Ansätzen - und sieht die Entwicklung des afrikanischen Fußballs positiver als Milla: „Die taktischen Grundvoraussetzungen sind mittlerweile universell. Und im Übrigen gibt es auch in Afrika sehr viele hervorragende Trainer“, sagt der langjährige Bundesliga-Profi.
Einig sind sich Milla und Addo darin, dass sich in den bleibenden Problemen des afrikanisches Fußballs die generellen wirtschaftlichen Ungleichgewichte widerspiegeln. „In Europa ist viel mehr Geld da, das in den Fußball investiert werden kann“, sagt Addo: „Die FIFA muss da versuchen, für mehr Chancengleichheit zu sorgen.“
Mehr Startplätze für Afrika gefordert
Unisono befinden Milla und Addo auch, dass Afrika in seiner Größe und Vielfalt längst mehr als fünf WM-Startplätze verdient hätte: „Das führt dazu, dass Ägypten zum Beispiel nicht dabei ist - mit Weltstar Mo Salah. Viele afrikanische Teams haben ein fantastisches Niveau. Es gibt da meiner Ansicht nach Reformbedarf.“
Vor diesem Hintergrund wäre es womöglich nicht nur sportlich eine Chance, wenn bei dieser WM mal wieder ein afrikanisches Märchen gelingt. Es würde auch die allgemeine Aufmerksamkeit für die afrikanischen Reformanliegen erhöhen.