Island-Reisen waren für den deutschen Fußball aus rein sportlicher Sicht bisher wenig spektakulär. Es gab deren drei, die beiden Testspiele 1960 (5:0) und 1979 (3:1) wurden standesgemäß gewonnen, das einzige Pflichtspiel blieb torlos.
Ein unfassbarer TV-Moment
Das 0:0 vom 6. September 2003 allerdings hatte ein historisches Nachspiel, es schrieb zumindest Fernsehgeschichte und die Nation lernte, dass es doch nicht „nur ein Rudi Völler“ gibt.
Was geschah an diesem Samstagabend vor genau 21 Jahren? Im ARD-Studio in Reykjavik standen Moderator Gerhard Delling und Experte Günter Netzer. Beide schonten die schon länger enttäuschende Nationalelf nicht nach diesem Gruselkick beim Tabellenführer (!), der dem Sieg gegen den Vize-Weltmeister um Kapitän Oliver Kahn und Spielmacher Michael Ballack näher gewesen war als der Gast.
Völler: „So einen Käse will ich nicht mehr hören“
NDR-Mann Delling witzelte in seiner flapsigen Art: „Die Samstagabendunterhaltung steckt in der Krise“. Netzer diagnostizierte frustriert „einen Tiefpunkt“.
Völler hatte nur einen kurzen Weg von der Bank in das improvisierte Mini-Studio im Stadion, hörte die Kommentare des Duos und entlud seine Wut zunächst auf ARD-Mann Waldemar Hartmann, der zu seinem Punchingball wurde. Treffen wollte er eigentlich Delling und Netzer.
Das etwas andere Interview ist längst Kult geworden und Teil von Völlers Popularität, weil da einer ungeschminkt seinen Emotionen freien Lauf ließ. Kostprobe: „So einen Käse will ich nicht mehr hören. So‘n Scheiß. Das ist das Allerletzte. Wechselt den Beruf, das ist besser.“
Wenn er auch mit der bissigen Annahme, Hartmann habe schon „drei Weißbier intus“ danebenlag, erntete er in der Branche viel Beifall für Sätze wie: „Dann soll der Herr Delling doch Samstagabendunterhaltung machen und keinen Sport. Dann soll er bei ‚Wetten dass‘ den Gottschalk ablösen.“ Oder: „Wenn Günter Netzer sagt, sie hätten früher auch mal ein schlechtes Spiel gemacht, aber danach zehn überragende – die zehn überragenden hätte ich früher gerne mal gesehen. Das muss noch vor dem zweiten Weltkrieg gewesen sein.“
Netzer und Delling wurden zugeschaltet und bekamen die Möglichkeit, sich zu wehren, aber gegen Völlers historischen Zornausbruch kamen sie nicht an. Sein Motiv: „Wenn ich mich jetzt nicht wehre, bin ich untragbar. Was sich Erich Ribbeck und Berti Vogts früher haben gefallen lassen müssen, kann man mit mir nicht machen. Das ist mir die Sache nicht wert.“
Hartmann fing Völler nicht mehr ein
Eine Kampfansage, die in einer Rücktrittsdrohung mündete und die Angreifer in den Medien, die das Idol eher selten in die Schusslinie rückten, bremsen sollte. Motto: Legt euch nicht mit Rudi an! Wenn ich gehe, seid ihr schuld.
Hartmann versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war und schloss die Übertragung mit diesen Worten: „Wenn die deutsche Mannschaft so viel Elan und so viel Feuer und so viel Verve hätte wie ihr Teamchef, müssten wir nicht noch zwei Heimspiele lang zittern.“ Völler bedankte sich lächelnd, aber abgekühlt war er nicht. (DATEN: Tabellen der WM-Qualifikation)
Auf der Pressekonferenz legte er nach: „Diese Häme, diese hämische Kritik von Ex-Spielern oder Ex-Trainern, die früher eine große Karriere hatten, nimmt bei uns eine Steilkurve nach oben, die total überzogen ist. Natürlich haben wir heute schlecht gespielt. Aber diese ganzen Gurus! Wenn ich immer höre, wie gut die alle waren… Das ist für mich eine absolute Sauerei. Das ist das Allerletzte, das lasse ich mir nicht gefallen.“
Da brodelte ein deutscher Vulkan auf Island, da war einer auf 180. Für den Weißbier-Spruch entschuldigte sich Völler direkt bei Hartmann, der dennoch davon profitierte: Nun als „Weißbier-Waldi“ bekannt, bekam er einen lukrativen Werbevertrag von einer Brauerei (über zehn Jahre) und dankt Völler jedes Jahr am 6. September per SMS dafür.
Hartmann: „Mit einem Interview hat er meine Altersvorsorge gesichert.“ Auch wenn er jedes Mal Völlers Deckel zahlen muss, wenn sie sich treffen.
Hoeneß über Völlers Ausbruch: „Weltklasse“
Die ARD verlängerte damals übrigens extra die Sendung, denn „wir haben gemerkt dass da etwas Besonderes passiert und sind drauf geblieben“, erzählte der Sendeleiter später. Das Besondere war die Erkenntnis über die wahre Natur des freundlichen Kumpeltyps Rudi Völler.
Hartmann sagte nach der Sendung: „Ich kenne Rudi schon lange und weiß, dass er nicht nur ein Schmusebär ist und explodieren kann. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt, und ich mache diesen Job schon seit 25 Jahren.“
Die Nation hatte den wahren Rudi Völler kennen gelernt oder besser seine andere Seite. Sie machte ihn nicht unsympathischer, Uli Hoeneß etwa fand den Ausbruch „Weltklasse“. Völler nicht, er zog sich zurück soweit das in seiner Position ging und sagte ein Interview mit der ARD-Sportschau am Tag danach spontan ab.
In einem Interview mit SPORT1 im März 2021 hat Hartmann betont, dass sein Verhältnis zu Völler „wunderbar“ sei und er bei gelegentlichen Treffen stets vergeblich versuche ihm klar zu machen, dass ihn das Interview „noch populärer und beliebter“ gemacht habe.
Völler ist wohl der einzige, der das nicht so sieht. Er sagt im neuesten DFL-Magazin: „Ich habe so viel erlebt im Fußball – ob als Spieler, Trainer oder Manager. Ich war Weltmeister, Champions League-Sieger, ein paar Törchen habe ich auch gemacht, aber es gibt diese zwei Episoden, mit denen ich immer wieder konfrontiert werde: Glauben Sie mir, ich hätte auf beide lieber verzichtet. In Deutschland wird das immer das Interview mit Waldemar Hartmann in Island bleiben. Und im Rest der Welt die Geschichte mit Frank Rijkaard bei der WM 1990.“
Revival in der Werbung? Völler lehnt ab
Damals flog Völler mit Rijkaard in Mailand vom Platz, obwohl er nur Opfer und nicht Täter war, der Holländer hatte ihn angespuckt. Der Unterschied zu 2003: Völler hatte sich im Griff, bis die Kameras ihn nicht mehr erfassen konnten, erst in den Katakomben von San Siro flogen die Fäuste. Das kam erst Jahre später raus.
Ausgerechnet als Bundestrainer, wo er Vorbild sein musste, explodierte er öffentlich. „Völler entfesselt“ titelte die Welt damals. Früher kämpfte er auf dem Platz mit anderen Mitteln, war auch emotional und konnte böse gucken, aber abgesehen davon, dass er Mannheims Trainer Klaus Schlappner mal den Pepita-Hut vom Kopf riss, war der so freundliche Publikumsliebling „Ruuudi“ kaum auffällig geworden.
Neben dem Platz musste er nun andere Wege gehen, seinen Frust zu kanalisieren. Und stieß auf ungeheuer viel Verständnis. Leverkusens Manager Rainer Calmund attestierte seinem baldigen Nachfolger, Völler gehe es um das Team und er haben sich eben „wie eine italienische Mama vor die Familie gestellt“. Einer, dessen Zornausbrüche nicht minder gefürchtet waren, erteilte von höchster Stelle Absolution. Franz Beckenbauer: „Das hatte sich bei Rudi über Wochen aufgestaut und ist nun zum Ausbruch gekommen. Das ist menschlich.“
Wenn es überhaupt etwas zu verzeihen gab, so wurde ihm verziehen. Noch vor wenigen Monaten gab es wieder ein Werbeangebot für Völler und Hartmann, „um die alte Geschichte nochmal nachzuspielen“, wie der Ex-TV-Mann SPORT1 erzählte.
Rudi lehnte dankend ab. Es dürfte ihm weder an Geld noch an Popularität mangeln, trotz oder auch wegen des Vulkanausbruchs von Reykjavik.